"Unsere Älteste", sagt Hildegard Ewen, wenn sie von Shabana spricht, der jungen Frau, die ihr erstes Patenkind war. Viele Jahre haben die Eheleute Ewen das Mädchen aus Indien unterstützt - bis es aus dem SOS-Kinderdorf Varanasi ausgezogen ist, geheiratet und ihr erstes Kind bekommen hat, "einen süßen Buben".
Bereits vor vielen Jahrzehnten lernte Hildegard Ewen die SOS-Kinderdörfer kennen. Als junge Pädagogik-Studentin machte sie in Imst bei Hermann Gmeiner ein Praktikum - im ersten SOS-Kinderdorf überhaupt. Mit Hermann Gmeiner habe sie über die Kinderdorf-Idee gesprochen und auch im Kreis der Mütter diskutiert. "Mich hat das Konzept sofort überzeugt, aber ich war damals arm wie eine Kirchenmaus." An eine finanzielle Unterstützung sei nicht zu denken gewesen.
Das änderte sich: Hildegard Ewen beendete ihr Studium und wurde Lehrerin, sie heiratete ihren Mann Bernd, einen Physik-Professor. Schließlich schloss das Ehepaar die Patenschaft für Shawana ab und einige Jahre später eine zweite für einen Jungen aus demselben Dorf, Ashwani. Während Shawana ihrer Herkunft entsprechend im buddhistischen Glauben erzogen wurde, wächst Ashwani als Hindu auf. "Ich finde es ganz wichtig, dass der Glaube der Kinder respektiert wird", betont Hildegard Ewen. Begeistert lasen die Eheleute über die Jahre die regelmäßigen Berichte, aus denen sie erfuhren, wie sich ihre Patenkinder entwickeln, ob sie gesund sind, was im Dorf vor sich geht.
Hildegard und Bernd Ewen hatten also bereits ein gutes Bild vom Leben im SOS-Kinderdorf Varanasi, als sie im letzten Jahr, inzwischen beide in Rente, persönlich nach Indien fuhren. Ashwani begrüßte seine deutschen Paten mit Blumen und einem strahlenden Gesicht. "Alles war sehr schlicht im Kinderdorf, aber sehr gepflegt", erinnert sich Hildegard Ewen. Da waren Grünanlagen, ein Brunnen, Spielplätze und rote Ziegelhäuser, die schmale Schlitze anstelle von Fenstern hatten, um die Hitze draußen zu halten. Ashwani nahm die Besucher mit zu seiner Familie. Sehr liebevoll seien die Geschwister miteinander und mit ihrer Mutter umgegangen, sagt Hildegard Ewen. Und wie so oft waren es die kleinen Dinge, die in Erinnerung blieben: Als die Mutter das jüngste Kind gewickelt und die Windel auf dem Boden abgelegt habe, hätte eines der anderen Kinder diese selbstverständlich genommen und in den Müll geworfen. "In meinen 30 Jahren als Lehrerin habe ich viele Hausbesuche bei den Familien gemacht, aber so etwas habe ich noch nie gesehen!"
Und dann war da noch die Begegnung mit einem Baby, das der Dorfleiter behutsam in die Arme von Hildegard Ewen legte. In Zeitungspapier gewickelt habe es vor dem SOS-Kinderdorf gelegen, gerade ein paar Tage alt. Weil das kleine Mädchen körperlich keinen Schaden genommen hatte, entschied man, dass es von Satakshi, der "Göttin mit den 100 Augen", beschützt worden war und nannte es nach dieser. Satakshi ist heute das dritte Patenkind von Bernd und Hildegard Ewen, die selber schmunzeln müssen. "Mit 70 Jahren haben wir uns noch einmal getraut!"