04. Februar 2013 | NEWS

Vergewaltigung rüttelt Indien auf

Interview mit Frauenrechtsaktivistin

In Neu-Delhi beginnt der Prozess gegen die mutmaßlichen Vergewaltiger einer 23-jährigen Studentin, die an den Folgen der extrem brutalen Tat starb. Sechs junge Männer wurden angeklagt, alle plädieren auf nicht schuldig. Ishita Kaul (26), Tochter des Präsidenten der SOS-Kinderdörfer, Siddharta Kaul, engagiert sich seit langem für Frauenrechte in Indien. In unserem Interview erklärt sie, was sich in Indien ändern muss.

Sie nahmen an den Protesten teil nach der Vergewaltigung der Studentin Anfang Januar. Was hat die unfassbar brutale Tat in Indien und bei Ihnen persönlich ausgelöst?

Engagiert sich für Frauenrechte in Indien: Ishita Kaul, 26, Tochter von SOS-Präsident Siddharta Kaul.

Gewalt gegen Frauen, vor allem Vergewaltigung gibt es in Indien seit langer Zeit. Man liest regelmäßig etwas darüber in den Zeitungen. Einerseits beschämt es mich und macht mich wütend – aber auch hilflos. Hilflos im Sinne von "Das wird sich wohl nie ändern" oder "der Vergewaltiger wird wieder straflos ausgehen." Aber dieser spezielle Vorfall, seine Brutalität, stellt einen Wendepunkt dar. Die Menschen wurden wachgerüttelt, auch die, die sich bisher in einer Art stummer Komplizenschaft ausruhten.

Die Täter vergewaltigten die junge Frau in einem Bus - fahren Sie hin und wieder Bus?

Ich fahre nie mit dem Bus in Delhi und ich habe gute Gründe, warum ich in Indien nie den Bus nehme - in London hingegen ohne Bedenken bei Tag und Nacht. In Delhi fahre ich U-Bahn, weil es dort einen Waggon gibt, in den nur Frauen einsteigen dürfen. Dort fühle ich mich einigermaßen sicher und ich muss mich nicht mit unverschämten Kommentaren auseinandersetzen oder es ertragen, vom anderen Geschlecht angestarrt zu werden. Es gibt allerdings keine "Frauen"-Busse in  der Stadt.

Waren Sie selbst oder eine Freundin schon einmal in einer bedrohlichen Situation?

Ich selbst noch nicht, aber meine Tante! Sie wurde als junges Mädchen einmal sexuell belästigt. Sie konnte gerade noch fliehen. Daran sieht man, dass schon Generationen von Frauen in Indien mit diesen Verbrechen leben müssen. Als eine Reaktion darauf haben die indischen Frauen eine Art Verhaltenscodex verinnerlicht, dem sie unterbewusst folgen. Sie bewegen sich in der Öffentlichkeit extrem kontrolliert und vorsichtig; wir versuchen, die Aufmerksamkeit nicht auf uns zu lenken. Dass Frauen sich überhaupt in der Öffentlichkeit zeigen, ist immer noch eine Art unerwartetes Phänomen. Allerdings ändert sich das gerade, weil immer mehr Frauen auf die Universitäten gehen, einer Arbeit nachgehen. Den ganzen Tag über sieht man Frauen in der Stadt – wenn auch nicht abends. Wir sind uns immer bewusst, dass wir auf uns selbst gestellt sind und von niemandem Hilfe erwarten können. Und wenn ein großer Teil der Bevölkerung so empfindet, dann kann meiner Meinung nach mit der Gesellschaft etwas nicht stimmen.

Was muss sich in Indien unbedingt ändern?

Es hat sich schon viel geändert in Indien – aber was wir am dringendsten ändern müssen, ist unsere Einstellung zu Frauen. Unsere Gesellschaft ist streng patriarchal, im Norden Indiens vor allem, im Süden oder Nord-Osten sind die Tendenzen dagegen nicht so stark. Außerdem leben wir in einer geteilten Gesellschaft: Durch Religion, Kasten, Vermögen und so weiter. Frauen und Männer sind nicht gleichgestellt.

In einigen Gegenden Indiens werden weibliche Babys sofort nach der Geburt weggegeben oder getötet. Viele Föten werden abgetrieben, sobald die Eltern wissen, dass es ein Mädchen wird. Dies wird nicht verfolgt und bestraft, was nur einmal mehr zeigt, wie die indische Gesellschaft mit dem weiblichen Geschlecht verfährt. In einigen Gegenden, vor allem in Nordindien auf dem Lande,  ist bereits so weit, dass es viel mehr Männer als Frauen gibt. Die Männer finden keine Ehefrauen mehr und so sind es sie, die die Mitgift bezahlen müssen - es kehrt sich also um.

Welches Frauenbild haben indische Männer?

Die meisten indischen Männer sind in ihrem Leben zwei Frauenrollen begegnet: Zuerst ihrer eigenen Mutter. Sie arbeitet als Hausfrau, widerspricht ihrem Ehemann nicht, bekommt die Kinder und ist eine pflichtbewusste Schwiegertochter. Und dann die Kunst-Frauen der Indischen Filmindustrie: Dies sind extrem sexualisierte Frauen, die als Lustobjekt dienen oder als atemberaubende, aber labile Liebhaberinnen.
Wenn er nun eine Frau trifft, die weder in das eine noch in das andere Schema passt, führt das zu Missverständnissen. Männer lernen nicht, einer Frau zu begegnen, ohne die Würde des anderen zu verletzen. Auch die strikte Trennung der Geschlechter schon als Kinder ist ein Grund dafür, warum die Männer und Frauen später nicht wissen, wie sie miteinander umgehen sollen.

Leider haben auch die Frauen in diesem Land dasselbe Gedankengut verinnerlicht. Sie werden ihren Töchtern sagen, dass sie sich nicht provokativ kleiden sollen oder dass sie nicht heiraten können, wen sie möchten. Aber für ihre Söhne gelten nicht dieselben Regeln. Wenn die Tochter jemanden heiratet, mit dem die Familie nicht einverstanden ist, wird sie von ihrem Ehemann getrennt oder schlimmstenfalls sogar umgebracht.

Diese frauenfeindliche Haltung ist das, was wir in Indien unbedingt ändern müssen, aktiv und anhaltend. Und ich kämpfe vor allem für ein Schulsystem, dessen Fundament die Gleichheit ist, nicht nur die Gleichheit der Geschlechter, sondern die aller Menschen, jenseits von Kaste, Glauben oder Hautfarbe, jenseits von Nationalität oder Einkommen.

Hat sich in den letzten Jahren schon etwas geändert?

Mittlerweile ändern sich die Gesetze: Es werden neue Gesetze erlassen, die Vergewaltigung als geschlechtsunabhängig definieren, trotzdem müsste man die Definition von Vergewaltigung noch ändern. Bei den meisten sexuellen Verbrechen handelt es sich ja nicht nur um peno-vaginale Penetration, sondern auch um anale Penetration, Penetration mit Gegenständen und so weiter. Außerdem wird Vergewaltigung in der Ehe nicht als Verbrechen anerkannt.

Die archaische Praxis des "Zwei-Finger-Tests" wird immer noch durchgeführt. Dabei werden zwei Finger in die Vagina der Klägerin eingeführt – nicht, um zu untersuchen, ob die Frau vergewaltigt wurde, sondern um festzustellen, ob sie regelmäßig Sex hat. Wenn das der Fall ist, wird die Anklage fallen gelassen: Es spielt also keine Rolle, ob die Frau zugestimmt hat. Wenn eine Frau regelmäßig Sex hat, darf sie sozusagen ohne weiteres vergewaltigt werden.
Wir brauchen aber nicht nur härtere Gesetze, sondern auch kompetente und effiziente Behörden, die diese Gesetze umsetzen. Viele Vergewaltiger werden nicht gefasst, weil die Polizei nicht gründlich ermittelt. Das sendet die falschen Signale aus: Manche stehen über dem Gesetz des Landes.
Die Verfolgung und Anklage solcher Verbrechen werden oft hinausgezögert. Außerdem ist die Unsitte, die Schuld der Vergewaltigung beim Opfer zu suchen, so stark, dass viele Frauen das Verbrechen gar nicht erst anzeigen.

Wie helfen Sie Frauen in Indien?

Ich arbeite im Entwicklungshilfe-Sektor mit vielen Organisationen zusammen, die die Rechte der Frauen stärken und allgemein die Gleichstellung der Menschen fördern. Wir wenden uns vor allem an Grundschulen, denn es ist wichtig, dass die Kinder schon sehr früh Verantwortung und Werte verinnerlichen.
Ich helfe mit meiner Arbeit aber nicht nur den Frauen in Indien, sondern auch mir selbst. Teil diese Protestbewegung zu sein, die nach dem Mord an Jyoti Singh Pandey losbrach, half mir, mich zu artikulieren, solidarisch zu sein mit anderen, die ebenfalls glauben, dass solche Verbrechen endlich verfolgt werden müssen. Ich habe mit meinen Freunden auch eine Petition eingereicht und wir haben das Parlamentsmitglied von Ost-Delhi auf unserer Seite.

Wie können wir in Deutschland indische Frauen unterstützen?

Am wichtigsten sind meiner Meinung nach Programme, die Kindern und Erwachsenen Werte vermitteln. Die SOS-Kinderdörfer unterstützen Mädchen seit Jahrzehnten durch nachhaltige Schul- und Ausbildung. Im Rahmen der SOS-Familienhilfe werden Frauen ausgebildet, beraten und in ihren Rechten gestärkt.

 

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