Äthiopien 1985: Besuch im SOS-Kinderdorf Mekele

Der Fotoreporter Jan Schulz hat viel gesehen von der SOS-Welt - begleiten Sie ihn auf eine Zeitreise durch drei Jahrzehnte


Tausende Flüchtlinge in einem Zeltlager: Während der Hungersnot 1985 in Äthiopien leisteten die SOS-Kinderdörfer Nothilfe - Fotos: Jan Schulz
Kurz vor Weihnachten 1985, die Alster in Hamburg war zugefroren, alles sprach für kalte, aber ruhige Feiertage. Ich sollte mich irren. Zuhause stand bereits der Christbaum, meine Frau plante das Essen für das Fest, als mich ein Anruf der SOS-Kinderdörfer-Pressechefin Lotte Schwaebe aus meiner Feiertagsstimmung riss. Sie erklärte mir, dass sie dringend redaktionelle Unterstützung für eine Hilfsaktion für das von Bürgerkrieg und Hungersnot gebeutelte Äthiopien brauche. Geplant seien ein Besuch vor Ort, der von Weihnachten bis Silvester dauern würde. Ich zögerte, doch Frau Schwaebe gab alles: "Es gibt bereits einen Spender aus Deutschland, der Zelte zur Verfügung gestellt hat! Diese sollen im Kinderdorf Mekelē im Nordosten Äthiopiens aufgestellt werden, um 50 Kinder aus einem Flüchtlingslager aufzunehmen und zu versorgen. Außerdem hat das Kinderdorf ein Hilfsprogramm gestartet, mit dem täglich 1500 Personen aus der Umgebung verpflegt werden sollen." Meine Neugier war geweckt, und als Frau Schwaebe dann noch berichtete, dass dieses Programm auch tatkräftig von den älteren Kindern des Dorfes unterstützt werde, die überall mithalfen, sagte ich zu. Das war doch eine wunderbare Story. Denn, das muss man wissen, Äthiopien litt zu dieser Zeit unter einer der schlimmsten Hungersnöte, die dieses Land je erlebt hatte. Fast acht Millionen Menschen waren betroffen, geschätzte eine Million Hungerleidender starb an den direkten oder indirekten Folgen von Unterversorgung. Da musste geholfen werden und ich wollte meinen Beitrag dazu leisten.


Rettung auf der offenen Ladefläche eines Lastwagens: Hier werden 50 Mädchen und Jungen aus dem Flüchtlingslager ins SOS-Kinderdorf Mekele in Sicherheit gebracht.
Voller Euphorie fuhr ich am nächsten Morgen in die Redaktion nicht die Spur daran denkend, dass mein direkter Vorgesetzter sich mit dieser Idee möglicherweise gar nicht anfreunden könnte. Es kam, wie es kommen musste. Der Abteilungsleiter winkte ab. Er war der Meinung, dass so etwas nach Weihnachten niemanden mehr interessiere. Doch so schnell wollte ich nicht aufgeben, denn ich war von der Geschichte überzeugt. So wandte ich mich an den Chef meines Chefs, der sofort begeistert war. Dass das in der Redaktion zu nachhaltiger Verstimmung führte, kann man sich denken...

Aber es hilft ja nichts, wenn eine Geschichte gut ist, muss man sie auch machen! Jetzt musste alles ganz schnell gehen: Impfungen oder Visum gab es nicht so schnell, alles sollte - hoffentlich - bei der Ankunft erledigt werden. Auch der Weiterflug von Addis Abeba war völlig unklar, es ging nur mit Transportmaschinen der Luftwaffe, aber wie?  Mit Mut und Gottvertrauen flogen ein schreibender Redakteur und ich los. Der Winter lag hinter uns, doch was würde uns erwarten? Wir wussten wenig und ahnten noch viel weniger...


Ankunft der Flüchtlingskinder im Kinderdorf von Mekele, beobachtet von den SOS-Kindern
Nach der Ankunft im heißen Addis Abeba empfing uns der damalige Projektleiter der SOS-Kinderdörfer in Afrika, Werner Handl, mit guten Nachrichten: Er hatte es tatsächlich hinbekommen, ein Visum zu beschaffen - der Mann musste zaubern können. Jedoch mussten wir darauf hoffen, dass uns ein Militärtransporter ohne lästige Formalitäten weiter bis Mekelē mitnehmen würde. Nach einer kurzen Nacht ging es bereits am nächsten Morgen wieder zum Flughafen. Hier herrschte mehr als rege Betriebsamkeit: Hunderte Säcke mit Hilfsgütern stapelten sich vor riesigen Transportflugzeugen, in deren Bäuchen ein Sack nach dem anderen verschwand. Uns war schnell klar, dass für uns kein Platz mehr sein würde, und so mussten wir es am nächsten Tag noch einmal versuchen. Wieder um sechs Uhr früh zum Flughafen, wieder bei den Militärs melden. Doch dieses Mal hatten wir Glück, eine englische Transportmaschine war nicht nur abflugbereit nach Mekelē, man war auch bereit, uns mitzunehmen.

Hurra! Schnell sprangen wir hinein, um auf Klappsitzen, die mit der Bordwand verschweißt waren, umringt von Säcken und Kisten, Platz nehmen zu dürfen. Der Flug, der über Rebellengebiet führte, dauerte gut zwei Stunden. Sehen konnte man nichts, dafür umso mehr hören, es war Ohrenbetäubend laut. Schließlich landete die Maschine auf einer Sandpiste, auf der schon mehrere Fahrer mit Geländewagen auf uns warteten, die den Auftrag hatten, uns in das Flüchtlingslager zu bringen.


Täglich wurden durch die SOS-Nothilfe rund 1500 Flüchtlinge versorgt - unter tatkräftiger Mithilfe der SOS-Jugendlichen: Sie organisierten die Essensausgabe, kochten und verteilten die Mahlzeiten.
Doch das Schicksal hatte zunächst noch etwas anderes mit mir vor: Wegen einer Reifenpanne verloren der Fahrer und ich den Anschluss zur Gruppe. Keiner der Vorausfahrenden merkte etwas. Ich hätte die Begleiter wohl nie wieder gesehen und die Geschichte hätte sich erledigt, bis eine ebenso ungewöhnliche wie unerwartete Rettung nahte. Zwei belgische Nonnen in einem uralten VW-Käfer hielten an und nahmen - nach einer kurzen Erklärung - sofort die Verfolgung auf. Als ob der Teufel hinter ihnen her wäre, rasten sie über die stauben Straßen. Mit Erfolg, denn wir holten unser Team wieder ein. Zum Glück, denn das, was da nun vor uns lag, hatte ich nicht erwartet, und ich hätte dort auch garantiert niemanden wieder gefunden: Das Flüchtlingslager war riesig! Tausende und Abertausende Zelte standen dicht an dicht, und von noch mehr Menschen besiedelt, die bis auf die Knochen ausgezehrt. Ich hatte noch nie so viel Elend gesehen. Es berührte mich sehr. Mit geschultem Blick waren die Mitarbeiter des SOS-Teams schon bei der Arbeit und suchten Kinder, die am dringendsten Hilfe nötig hatten und die mit in das Kinderdorf sollten. Nach einigen Stunden, wir wollten gerade los, entdeckten wir ein kleines Mädchen, welches in einem erbärmlichen, ausgemergelten Zustand vor einem Zelt lag. Niemand wusste, wie es hieß, zu wem es gehörte. Wir nahmen es mit ins Kinderdorf, wo es sofort ärztlich versorgt wurde. Im Kinderdorf dann kamen wir gerade rechtzeitig zur Essensausgabe. Eine lange Schlange hatte sich gebildet, trotz des schmerzenden Hungers warteten die Menschen geduldig auf Nahrung. Die älteren Kinder kümmerten sich rührend um die Versorgung der Hungernden. Leider mussten wir das Dorf bald wieder verlassen, da wir noch vor Einbruch der Dunkelheit zurückkehren sollten. Am Flughafen konnten wir wieder nur auf irgendein Flugzeug hoffen. Es nahte eine Transall der Bundesluftwaffe und die Besatzung war total überrascht, hier Deutsche zu treffen. Sie luden uns sofort ein mitzufliegen. Nachdem wir in großer Höhe wieder das Rebellengebiet überflogen hatten, landeten wir sicher in Addis Abeba.

Später, als ich wieder im kalten Hamburg war, erfuhr ich, dass das kleine Mädchen, das wir einsam vor einem Zelt gefunden hatten, gestorben war. Das war wohl der traurigste Moment von all meinen Reisen in alle Welt. Vielen wurde geholfen, alle konnte nicht gerettet werden…
Ich werde das kleine Mädchen niemals vergessen.

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