Es gibt zu wenig Zahnbürsten, Wasser und Toiletten funktionieren nicht und die Kinder erhalten kaum liebevolle Zuwendung: In den staatlichen Heimen und Erziehungsanstalten des ehemaligen Ostblock herrschen häufig Zustände, die in krassem Gegensatz zur UN-Kinderrechtskonvention stehen. In 19 Ländern der Region sind die SOS-Kinderdörfer in die Reform des Heimwesen eingebunden.
Der Begriff ist sperrig. Tatsächlich meint De-Institutionalisierung das Gegenteil von Verwaltung und umschreibt einen der wichtigsten Prozesse in Zentral- und Osteuropa und der früheren Sowjetunion in der außerfamiliären Betreuung von Kindern. In 19 Ländern ist SOS-Kinderdorf auf die eine oder andere Weise in dieses Reformvorhaben eingebunden. Ziel ist es, das Heimsystem von Grund auf zu verändern bzw. durch alternative Betreuungsformen zu ersetzen und soziale Hilfen für Familien zu etablieren. Schätzungen zufolge befinden sich rund 1,3 Millionen Kinder* in der Region in institutioneller Betreuung. In fast allen Fällen heißt das: staatliche Heime, Internate, Erziehungsanstalten. Bis heute erfüllen die meisten dieser Einrichtungen von der Ausstattung bis hin zur pädagogischen Qualität kaum Mindeststandards und stehen in krassem Gegensatz zur UN-Kinderrechtskonvention.
Die politische Wende zu Beginn der 1990er Jahre hat an dieser großteils dramatischen Situation hinter Heimmauern nichts Wesentliches geändert, im Gegenteil. EveryChild spricht von "katastrophalen Folgen der ökonomischen Reform für Kinder und Familien". Ugur Zeynally, Leiter von SOS-Kinderdorf Aserbaidschan, kann dies für sein Land nur bestätigen. Auffallend ist zum Beispiel in Aserbaidschan die Zunahme an Scheidungen und damit an Alleinerzieherinnen**, die ein vielfach höheres Risiko tragen, sich nicht aus eigener Kraft um ihre Kinder kümmern zu können.
In vielen der vergleichsweise jungen Staaten hinken Wirtschaft und soziale Sicherheit dem Niveau vor 1990 hinterher. Zahlreiche Probleme sind ein direktes Erbe aus Sowjetzeiten, viele entstanden erst aus dem Ende eines zentralistisch verwalteten Systems und der damit verbundenen radikalen Deregulierung sämtlicher Lebensbereiche. Vielen Familien bescherte dieser Übergang einen freien Fall in die Armut. Die meisten der Kinder, die in Heimen untergebracht sind, sind demnach auch keine Waisen, wiewohl der Begriff "Waisenhaus" immer noch gebräuchlich ist. Je nach Land variieren die Gründe für institutionelle Unterbringung, fast durchwegs sind jedoch die Ursachen indirekte Folgen von Armut (Großfamilien, Alleinerziehende, Alkoholismus, Krankheit, Arbeitslosigkeit), fehlenden sozialen Anlaufstellen und schwacher wirtschaftlicher Grundsicherung sowie die gesellschaftliche Haltung gegenüber Kindern mit körperlicher und geistiger Behinderung.
Pflegevater "Staat"
Insgesamt gelten staatliche Institutionen immer noch als erste Wahl, wenn die Herkunftsfamilie ihrer Erziehungs- und Betreuungspflicht nicht nachkommt bzw. nicht nachkommen kann. Warum dies nach wie vor so ist, hat wesentlich mit dem äußerlich überwundenen kommunistischen System zu tun, das im Inneren noch wirkt. Entprivatisierung erfolgte nicht nur in Wirtschaft und Politik, der Staat eignete sich auch in familiären Beziehungen die Vormundschaft an. Er würde besser wissen, wie Kinder erzogen werden sollten, als die Eltern selbst, so die Ideologie. In diesem Sinne gab es auch keine zwischengeschalteten Stellen wie z.B. Familienhelfer oder Sozialarbeiter, die mit Familien in Krisen arbeiteten. Erste und einzige Option war "Vater Staat".
Der Mangel an alternativen Betreuungsformen setzt sich bis heute fort, und so kommt es, dass Hilfe suchende Eltern zumeist keine andere Möglichkeit sehen, als ihre Kinder in staatliche Obhut zu geben. Dabei, so zeigt die Erfahrung, gibt es einerseits eine Bandbreite an sozialen Hilfen, mit denen Eltern unter die Arme gegriffen werden kann, andererseits - wenn ein Kind nicht in der Familie bleiben kann - weit bessere, vor allem kindgerechte Betreuungsformen.
Der Reformprozess ist ein mühsamer Weg, der seit einigen Jahren in kleinen Schritten begangen wird und auch mit Bewusstseinsbildung und Wissenstransfer zu tun hat. Rusudan Chkheidze von SOS-Kinderdorf Georgien, die sich sowohl national als auch in der gesamten Region mit De-Institutionalisierung beschäftigt, erzählt, dass "in Georgien Pflegeelternschaft weitgehend unbekannt ist." Und Georgien ist kein Einzelfall. Auch in Aserbaidschan, wo SOS-Kinderdorf eine 11-köpfige NGO-Gruppe leitet, die der Regierung beratend zur Seite steht, um die Reform voran zu bringen, gab es bisher keine echte Alternative zu staatlichen Anstalten.
Eine Reform, die Jahre braucht
Und doch bringt die vermehrte Präsenz von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, die sich im Interesse der Kinder engagieren, allmählich Licht in das institutionelle Schattenreich. Ugur Zeynally hat in den vergangenen drei Jahren zumindest in der Ausstattung und baulichen Substanz der Heime eine Verbesserung beobachtet. Trotzdem fehlt es an allen Ecken. "Es gibt nicht genug Zahnbürsten, Seifen, Handtücher, oft funktionieren die Wasserleitungen und Toiletten nicht."
Die schlechte materielle Versorgung ist die eine Seite. Generell muss man sagen, dass vom Aufnahmetag bis zur "Entlassung" aus einer Institution - in Aserbaidschan bedeutet das eine durchschnittliche Aufenthaltsdauer von sieben bis acht Jahren - die Rechte und Bedürfnisse der Kinder nicht berücksichtigt werden. Es gibt kein Mitspracherecht und kaum liebevolle Zuwendung. Selten wird über die Herkunft aufgeklärt noch wird der Kontakt zu den leiblichen Eltern gefördert. Es ist unwahrscheinlich, dass es gute Ausbildungsplätze gibt, die Situation der Eltern wird nicht regelmäßig erhoben, um eine eventuelle Rückführung in die Familie zu ermöglichen, usw. Und der Austritt aus der Einrichtung erfolgt zumeist ohne begleitende Maßnahmen. Dann sollen die jungen Erwachsenen ein Leben leben, auf das sie nie vorbereitet wurden.
Die institutionelle Unterbringung, da sind sich Rusudan Chkheidze und Ugur Zeynally mit vielen nationalen und internationalen Kinderhilfsorganisationen einig, kann und darf nicht erste Wahl, sondern muss die letzte Option sein. Regierungen, Ministerien, staatliche Wohlfahrtsstellen und die Gesellschaft insgesamt sind mittlerweile sehr daran interessiert, die Heimmisere zu beenden und gemeinsam mit Experten langfristige Lösungen zu schaffen.
Gemeinsam verändern
SOS-Kinderdorf hat in Zentral- und Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion eine verhältnismäßig kurze Tradition, wie die unabhängigen Länder selbst. Bulgarien und Rumänien machten 1993 den Anfang, der ukrainische SOS-Kinderdorf-Verein ist der jüngste mit dem Gründungsjahr 2003. Im vergangenen Jahrzehnt konnte sich jedoch in vielen Ländern das familienpädagogische Konzept von SOS-Kinderdorf als echte Alternative zum konservativen Heimmodell etablieren. Hier kann SOS-Kinderdorf seine Expertise aus der Praxis einbringen und zeigen, wie entscheidend eine familiäre, fördernde Umgebung für das einzelne Kind ist.
Parallel zur SOS-Kinderdorf-Arbeit im engeren Sinn engagieren sich die Vereine in Arbeitsgruppen und Netzwerken zur Reform der Kinder- und Jugendwohlfahrt und betreiben gemeinsam mit NGOs Lobbying für Kinderrechte. In Georgien ist SOS-Kinderdorf unter anderem Mitglied einer De-Institutionalisierungs-Arbeitsgruppe und kooperiert mit NGOs wie World Vision und Save the Children. In Aserbaidschan ist SOS-Kinderdorf unter anderem Mitglied eines "Child Protection Network" von UNICEF.
Zusammenarbeit mit anderen Interessensvertretern, mit lokalen Behörden, Gemeinden und zuständigen Ministerien ist überhaupt das Um und Auf, um ein Problem dieser Größenordnung zu lösen. Und zur Lösung gehört, dass in vielen Fällen Kinder nicht von ihren Eltern getrennt werden müssen, wenn rechtzeitig Hilfe geleistet wird. In diese Richtung zielen die Familienförderprogramme, die SOS-Kinderdorf von Kasachstan über Usbekistan, Kirgisistan, Russland, Rumänien, die baltischen Staaten bis Bosnien und Herzegowina durchführt und die sukzessive erweitert werden. Schließung der Heime auf lange Sicht und Schaffung von alternativen Formen wie z.B. Pflegeelternschaft ist also das eine Ziel, den Bedarf von außerfamiliärer Betreuung möglichst zu minimieren, indem Familien die notwendige Unterstützung bekommen, das andere.
* Vgl. EveryChild: Family Matters. A study of institutional childcare in Central and Eastern Europe and the Former Sovjet Union, 2005.
** Policy Analysis of the out-of-home care system in Azerbaijan, SOS Children's Villages Azerbaijan, 2006.