"Wir können nicht zurück"

Hoffnung statt Abschiebung: Eine syrische Flüchtlingsfamilie hat es kurz vor dem EU-Türkei-Abkommen nach Lesbos geschafft

In der Dunkelheit kamen die Lichter von Lesbos immer näher. Die See war ruhig, doch plötzlich begann das Schlepperboot immer stärker zu schaukeln: Eine Bugwelle rollte heran und kündigte ein Marineschiff an, das sich aus der Nacht schob. "Es kam von der türkischen Seite, und ich hatte Angst, es wäre ein türkisches Boot, das uns zurückholen würde", erzählt Nour Essa (30). Über das Gesicht der Syrerin huscht ein kurzes Lächeln. "Doch es war die griechische Küstenwache." Die Besatzung nahm sie, ihren Mann Hasan Zaheda (31), und ihren kleinen Sohn Riad (2) an Bord und brachte sie nach Lesbos, zusammen mit über 50 weiteren Flüchtlingen, die sich im Schlepperboot befanden.

Im Camp Kara Tepe auf Lesbos: Die syrische Familie vor ihrer Notunterkunft.

Es war die Nacht des 18.3.2016, kurz bevor das EU-Türkei-Abkommen in Kraft trat. Wäre die syrische Familie nur ein paar Tage später über die Ägäis geflohen, dann hätte man sie im Auffanglager Moria hinter Stacheldraht interniert. Flüchtlinge, die seit dem 20.3. irregulär mit dem Boot kommen, sollen in die Türkei abgeschoben werden.

Doch der Reihe nach: Die Familie stammt aus einem Dorf in der Region von Damaskus. Sie hatten dort ein eigenes Haus und Nour Essa und ihr Mann waren beide als Agrarwissenschaftler beim Staat angestellt.

Gesucht als Deserteur

Während des Bürgerkriegs übernahmen Rebellen die Kontrolle über ihr Dorf. "Man wusste, dass wir für den Staat arbeiteten, und das war gefährlich: Leute wurden deswegen verschleppt und gefoltert", erzählt Nour Essa. "Wir hatten Angst und zogen zu meiner Familie nach Damaskus." Ende 2015 erhielt ihr Mann dann als Reservist den Einberufungsbefehl. Doch Hasan Zaheda wollte auf keinen Fall als Soldat in dem grausamen Bürgerkrieg kämpfen. Sie verkauften ihr Haus, weit unter Wert - aber sie brauchten das Geld für ihre Flucht, die im Dezember 2015 begann.

"Ich wurde als Deserteur gesucht", sagt Hasan Zaheda. Also flohen sie durch das Gebiet der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS). Auf der Ladefläche eines Viehtransporters ging es durch die Wüste, während russische Jets und syrische Hubschrauber über sie hinwegdonnerten.

Flucht durchs IS-Gebiet

Seit dem EU-Türkei-Abkommen werden Flüchtlinge im Camp Moria auf Lesbos interniert.

Ihre Flucht führt sie zunächst in den Osten des Landes, dann nach Ar-Raqqa der "Hauptstadt" des IS in Syrien. Doch als sie in die Türkei wollten, verweigerten die Islamisten ihnen die Ausreise. "Sie wollten, dass wir als Dschihadisten für sie kämpfen“, sagt Nour Essa. Also riskierten sie erneut ihr Leben, um dem IS zu entkommen. In einem Dorf beim Gebet in der Moschee hatte Hasan Zaheda einen Mann kennen gelernt, der sie nachts ins Nachbardorf führte, das von den gemäßigten Rebellen der Freien Syrischen Armee kontrolliert wurde. Von deren Gebiet gelangten sie in die Türkei: ein stundenlanger Nachtmarsch, während türkische Soldaten Warnschüsse abgaben.

In der Türkei war die Familie aber keineswegs in Sicherheit: Sie wurden von Verbrechern gekidnappt und kamen nur gegen Lösegeld wieder frei. Schließlich gelangten sie zur Küste. Drei Mal versuchten sie mit Schlepperbooten nach Griechenland überzusetzen, doch jedes Mal wurde sie von türkischen Sicherheitskräften aufgegriffen und zurückgebracht. Dann wagten sie es ein viertes Mal – und schafften es nach Lesbos.

Im Camp auf Lesbos

Zusammenarbeit im offenen Camp: Das SOS-Team mit dem Leiter von Kara Tepe.

Nun befindet sich die syrische Familie in dem Durchgangslager Kara Tepe, das die Kommune Mytilini betreibt. Sie sind in einer der rund 200 Notunterkünfte untergebracht: in einer kleine Hütte mit weißen Plastikwänden, nur etwa vier mal acht Schritte groß, doch die Familie schläft hier alleine und hat Privatsphäre. Mehrere Hilfsorganisationen engagieren sich im Camp. So haben die SOS-Kinderdörfer eine Nothilfe-Kita eingerichtet: SOS-Mitarbeiter spielen, malen, tanzen und singen mit den Kindern. "Es ist offensichtlich, dass die Verhältnisse hier gut sind“, meint Nour Essa.

Das war nicht immer so: Im Sommer 2015, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, drängten sich in Kara Tepe 10.000 Menschen. Der Leiter des Camps, Starvos Myrogianis, hat seitdem viel getan, um die Bedingungen zu verbessern. Doch nun steht das Durchgangslager weitgehend leer: Anfang April sind dort nur etwas mehr als 100 Menschen untergebracht, obwohl die Kapazität bei 2500 bis 3000 liegt. "Wir warten und blicken nach Moria", sagt Myrogianis.

Flüchtlinge hinter Stacheldraht

Seit dem Inkrafttreten des EU-Türkei-Abkommen werden neu ankommende Flüchtlinge im sogenannten "Hotspot"-Camp in Moria interniert. Anders als zuvor dürfen sie das überfüllte Auffanglager nach der Registrierung nicht verlassen. Vor dem verschlossenen Tor haben Einsatzkräfte der Polizei Stellung bezogen, hinter dem Zaun demonstrieren Flüchtlinge gegen Internierung und die drohende Abschiebung zurück in die Türkei. Mehrere Hilfsorganisationen haben scharf kritisiert, dass Flüchtlinge in Moria de facto eingesperrt werden. Auch herrscht Unklarheit, wie das Abkommen konkret umgesetzt werden soll. Was geschieht mit Härtefällen, wie Mütter mit kleinen Babys? Wie werden die Asylanträge geprüft?

"Wir sind für unseren Sohn geflohen"

Kinderzeichnungen im Camp Kara Tepe auf Lesbos

Anders als Moria ist Kara Tepe ein offenes Camp, einen Stacheldrahtzaun gibt es nicht. Nour Essa weiß, dass ihre Familie großes Glück hatte. Die Abschiebung in die Türkei wäre für sie ein Alptraum. "Wir können nicht zurück", sagt sie eindringlich mit geweiteten Augen. "In der Türkei finden wir keine Arbeit und in Syrien können wir nicht mehr leben." Nun heißt es warten in der Hoffnung, dass ihr Antrag genehmigt wird: Die Familie will nach Frankreich, wo Nour Essa studiert und 2013 ihren Master gemacht hat, bevor sie in ihre vom Krieg gezeichnete Heimat zurückkehrte. "Ich weiß, wir werden unser Ziel erreichen, selbst wenn es noch Monate dauert." Sie nimmt ihren Sohn Riad in den Arm. "Wir sind für ihn geflohen. Wenn man ein Kind hat, dann muss man es versuchen."

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