"Wenn der Sturm sich legt"

Das Trauma nach Zyklon "Idai": SOS-Psychlogin erlebt den Sturm und hilft in Mosambik

Norah Brinkerhof* ist Traumapsychologin und seit 2017 für die SOS-Kinderdörfer in Mosambik im Einsatz. Während des Zyklons war sie in Beira und erlebte, welche Ohnmacht Naturgewalten in einem Menschen auslösen können. Das Erlebte hilft ihr jetzt, die Menschen psychologisch zu unterstützen.

Wusstest du, was auf dich zukommen würde mit dem Zyklon?

Keiner hier hat verstanden, was passieren würde. Regen, Flut das kennen die Menschen. Aber so einen Sturm? Nein. Ich verfolgte die Vorhersagen und wusste ein Zyklon der Stärke drei oder vier würde kommen. Was das bedeutet, konnte ich mir nicht vorstellen. Am Montag verstand ich, dass es ernst werden würde. Ich begann jeden in meinem Umfeld zu warnen – vom Gemüsehändler bis zu Kollegen. Aber die meisten glaubten mir nicht. Sie kennen eben solche Stürme nicht. Als wir das SOS-Dorf vorbereiteten, wusste niemand mit dem Wort Zyklon etwas anzufangen. Zuhause vernagelten wir die Fenster, besorgten Trinkwasser und haltbares Essen in Dosen. An dem Punkt erwarteten meine Nachbarn und ich das Schlimmste.

Wie hast du den Zyklon erlebt?

Mein Haus ist in der zweiten Reihe am Strand und damit traf uns der Zyklon mit voller Wucht. Ich ging am Donnerstagnachmittag  noch gegen 2 Uhr zum Strand. Wir wollten sehen, wie ernst es ist. Da hörten wir ein knirschendes lautes Knacken. Ein Mangobaum fiel auf das Haus unserer Nachbarn. Aber bis dahin war noch alles okay. Wir gingen zurück schauten Filme und schickten Fotos und Nachrichten an Freunde. Strom und Netz funktionierten. Um 9 Uhr abends wurde es ernst. Der Strom fiel aus und es war völlig dunkel. Dann hörten wir wie Fenster im Haus brachen, die Dachteile der Nachbarn in unseren Garten geschleudert wurden. Es ist laut. Das war extrem verstörend. Du bist so ausgeliefert. Das Telefon geht nicht, du kannst keine Rettung rufen. Du zählst jede Minute. Bis 12 Uhr nachts ging das so. Danach Stille. 
Das Auge des Zyklons hatte uns erreicht und wir wussten, er würde zurückkommen. Nach zwei Stunden kam er zurück. Diesmal von der anderen Seite. Wir waren panisch, erschöpft. Als es um 6 Uhr endlich vorbei war, war überall Wasser. 

War das für dich traumatisch?

Vor ihrem zerstörten Haus: Eine Mutter mit ihrem Kind in Beira, Mosambik

Ja. Ich weiß jetzt, wie sich ein Trauma anfühlt. Als der Sturm nachließ, war ich völlig erschöpft aber ich konnte nicht still sitzen. Um 9 Uhr machten wir Frühstück. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich aß. Dann gingen wir nach draußen. Du weißt, dass alles zerstört sein würde, aber du bist auf den Anblick trotzdem nicht vorbereitet. Alles, was wir kannten, war kaputt, selbst Häuser in stabiler Bauweise. Es war wie die Apokalypse. Ich konnte nur noch an meine Kollegen, die Kinder und die armen Familien in ihren Hütten denken. Ich war sicher, Millionen Menschen wären gestorben. Ich wollte zum SOS Dorf, aber ich konnte nicht. Ich hatte zu viel Angst vor dem, was ich sehen würde.

Wie erging es dem SOS-Kinderdorf und den Familien außerhalb?

Die Mangobäume waren auf einige Häuser gefallen, aber niemand war verletzt. Einige Kinder haben sogar den Zyklon verschlafen. Es ging allen gut und die Zerstörungen hielten sich in Grenzen. Ich bin dann zusammen mit anderen Psychologen hier zu den Notunterkünften gefahren, um Menschen zu unterstützen, die es schlimm getroffen hatte. Die Familien außerhalb des Dorfs, die wir durch die SOS-Familienhilfe begleiten, habe ich erst nach einer Woche besuchen können. Sie brauchen unsere Unterstützung dringend. Hier muss unser Fokus liegen. Es sind Menschen, die schon zuvor in extremer Armut lebten. Sie haben ihre Lebensgrundlage verloren. Ich habe Familien besucht, bei denen nichts, aber auch wirklich gar nichts mehr von ihrem Haus geblieben ist.


Welche Auswirkungen hat das auf die Kinder und Familien?

Heute traf ich einen kleinen Jungen. Er hat Albträume und war ziemlich verstört. Er sieht immer wieder, wie Mangobäume auf sein Haus fallen. Als er das erzählte, wurde er ausgelacht. Hier musste ich eingreifen und ihm erklären, dass seine Reaktion völlig normal ist. Das es normal ist, Angst zu haben und zu weinen, wenn so etwas passiert. Negative Emotionen werden hier in Mosambik einfach weggelacht. Die Leute können damit nicht umgehen. Das Leben hier ist hart. Es geht täglich ums Überleben, da ist keine Zeit ein Kind zu beruhigen und zu versichern. Für seine Großmutter ist Angst nicht akzeptabel – auch nicht für sie selbst.

Der Sturm knickte Bäume und zerstörte Häuser: Diese Kinderzeichnung erzählt von den traumatischen Erlebnissen.

Eine andere Frau, die ich heute besuchte, verlor ein Baby während des Sturms. Das Kind starb in ihren Armen und erzählte nebenbei, dass 14 Familienmitglieder starben. Sie reagiert völlig anders. Sie verdrängt, lässt nichts an sich ran. Sie kompensiert das, indem sie sich um andere kümmert. So hat sie das Gefühl, die Kontrolle zurückzuerlangen. Aber letztlich steht sie unter Schock. Ihre Stärke und ihre Coping-Strategie ist es, anderen zu helfen. Aber wie sieht es mit ihrem Trauma aus? Sie wirkt stark, aber dennoch ist da so viel Schmerz. Die wirklichen Folgen kommen oft erst, wenn der Sturm sich legt. An einem Punkt bricht sie vielleicht zusammen. Aber das muss nicht so sein. 

Ich wäre, glaube ich, zusammengebrochen. Sind Mosambikaner stärker als Europäer? 

Die Mosambikaner sind stark und der einzige Weg raus aus der Misere ist weitermachen. Das haben sie ein Leben lang gelernt. Ja, wir wären wahrscheinlich kollabiert. Das Baby starb blutend in ihren Armen, ihr Haus ist völlig zerstört und sie verlor 14 Angehörige. Ich kämpfe mit den Erlebnissen und ich habe nichts verloren.

Was kannst du jetzt tun?

Es ist in nicht mein Job ihr zu sagen: "Halt, schau erst einmal auf dein Trauma!" Meine Aufgabe ist es, ihre Stärken und Coping-Mechanismen zu fördern. In dieser Phase müssen wir Hoffnung spenden. Es wäre jetzt sehr gefährlich mit Betroffenen über das Erlebte zu sprechen. Zu leicht könnten wir sie re-traumatisieren nur dadurch, dass wir sie der Situation gedanklich wieder aussetzen. Die Menschen müssen für sich erst begreifen, was passiert ist und beginnen das Erlebte zu verarbeiten. Hier müssen wir da sein, moralisch bestärken und beobachten. Viele werden allein klar kommen. Die Schwere des Verlustes ist dabei übrigens irrelevant. Stelle es dir wie eine Verletzung vor. Bevor du zum Arzt gehst, schaust du, ob es von allein heilt. Ein Arzt macht erst Sinn, wenn die Wunde Gefahr läuft, sich zu infizieren.

In der zweiten Phase müssen wir den Kindern und Familien helfen, ihre Stärken zu finden. Wer Stärke in der Gemeinschaft findet, sollte ermutigt werden, rauszugehen, sich mit anderen auszutauschen, etwas zu unternehmen. Andere brauchen körperliche Bewegung. Sie müssen aktiv etwas tun. Das Haus aufbauen, pflanzen oder sogar Sport treiben.

Erst nach einer ganzen Weile, wird es möglich sein, diejenigen zu identifizieren, die Gefahr laufen eine Posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln. Das wird nicht die Mehrheit sein. Aber wir müssen hier achtsam sein, unsere Kollegen gut schulen, damit sie die Zeichen erkennen und entsprechend reagieren. 

Was muss jetzt in der Intervention Priorität haben? 

Essen und Hilfe beim Wiederaufbau ist extrem wichtig. Aber den psychologischen Support dürfen wir gleichzeitig nicht vergessen. Viele der Familien werden sonst nicht in der Lage sein, weiter zu machen, sich um ihre Kinder oder ihre Existenz zu kümmern. Hier müssen wir uns verlässlich koordinieren, unsere Kollegen gut ausbilden und Behandlungszentren ausfindig machen. 

Was hast Du bei dem Ganzen gelernt?

Obwohl ich einen Zyklon nicht noch einmal erleben will, ist es gut, dass ich da selbst durchmusste. So kann ich besser verstehen, warum die Leute hier nicht darüber reden. Letztlich hat jeder Verluste erlitten. Manche mehr, manche weniger. Am Anfang fragst du noch, aber irgendwann hörst du einfach auf. Es ändert nichts und es muss ja weitergehen. Das war eine wichtige Lektion für mich.

*Norah Brinkerhof arbeitet bei den SOS-Kinderdörfern Mosambik in Zusammenarbeit mit HORIZONT3000, einer der ältesten und größten Organisationen in der nichtstaatlichen österreichischen Entwicklungszusammenarbeit.

 

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