"Familien mit kleinen Kindern laufen unzählige Kilometer zu Fuß!"

Lara Prölß, Lateinamerika-Expertin der SOS-Kinderdörfer, hat mehr als ein Jahrzehnt in verschiedenen Ländern der Region gelebt und gearbeitet, bevor sie 2019 wieder nach Deutschland zog. Im Interview spricht sie über die Not der Kinder und Familien in Venezuela und ihre beschwerliche Flucht.

Frau Prölß, die Not muss groß sein, wenn Menschen ihre Heimat verlassen und ins Ausland fliehen. In Venezuela haben dies in den letzten Jahren an die 5 Millionen Menschen getan. Was sind die Gründe?

Viele Mütter tragen ihre Kinder unzählige Kilometer lang auf ihrem Weg in eine ungewisse Zukunft.

Lara Prölß: Bis Ende 2020 sollen es nach Prognosen sogar über 6,5 Millionen sein… Aufgrund der politischen Situation befindet sich das ganze Land in einer Versorgungskrise. Die Inflationsrate ist die höchste der Welt und steigt stündlich weiter. Die Menschen haben nicht genug zu essen, es mangelt an Medikamenten, die Krankenhäuser sind unterversorgt, die Energieversorgung bricht immer wieder zusammen, es kommen kaum noch Waren ins Land, es fehlen Lehrer, Ärzte und Fachkräfte. Wer kann, versucht, im Ausland eine bessere Zukunft aufzubauen.

Wie gelingt es einer Hilfsorganisation unter diesen Bedingungen weiter für die Menschen da zu sein?

Das ist tatsächlich eine Herausforderung! Aber bisher ist es den SOS-Kinderdörfern gelungen, alle Programme aufrecht zu erhalten. Viele andere lokale wie internationale Organisationen haben ihre Arbeit bereits eingestellt. Für die Menschen ist das bitter.

Sind es vor allem die Armen, die aktuell fliehen?

Angehörige der Oberschicht haben bereits vor Jahren das Land verlassen, danach kam die Mittelschicht, jetzt fliehen die Ärmsten. Während die wohlhabenderen Flüchtlinge das Flugzeug genommen haben, sind die Menschen jetzt zu Fuß unterwegs. Ganze Familien mit kleinen Kindern laufen unzählige Kilometer unter extremen klimatischen Bedingungen. Das Wetter wechselt von sehr heiß zu kalt, die Luftfeuchtigkeit ist oft hoch, es gibt extreme Höhenlagen.

Welches Ziel haben die Menschen?

In der Nähe der Grenzübergänge sind unzählige Menschen unterwegs. Nach langen wegen zu Fuß müssen die Flüchtlinge dort meist stunden- bis tagelang warten.

Die meisten Flüchtlinge sind in Kolumbien aufgenommen worden, dem direkten Nachbarland zu Venezuela, danach in Peru, Chile und Ecuador. Allerdings haben die drei letztgenannte ihre Einreise-Bestimmungen mehr und mehr verschärft. Wer ins Land möchte, muss Papiere vorweisen: Bei den einen ist es ein Visum, bei den anderen ein Reisepass oder ein polizeiliches Führungszeugnis. Das klingt erstmal harmlos, aber da in Venezuela die Verwaltung zusammengebrochen ist, kann es Jahre dauern, bis man einen Pass bekommt. Und die Gebühr von vielleicht 50 Dollar ist weit von dem entfernt, was sich die Menschen leisten können. Oft erfahren die Leute das erst an der Grenze und sind ziemlich geschockt.

Was passiert mit ihnen?

Eine wichtige Erkenntnis ist: Migration lässt sich durch Verbote nicht aufhalten, sie sucht sich lediglich andere Wege, die oft gefährlich sind. Die Menschen fliehen durch den Amazonas - da sind Kinder und Familien dabei. Immer mehr Flüchtlinge versuchen auch per Boot über das Meer nach Ecuador oder auf eine der kleineren Karibikinseln zu kommen. Etliche sind bereits ertrunken, auch Kinder. Andere stranden in Kolumbien: An der kolumbischen Grenze zu Ecuador stapeln sich die Menschen regelrecht. An manchen Orten leben die Menschen in Slums oder auf der Straße. Wir erleben hier gerade eine der größten Migrationsbewegungen, die es je in der Region gab.

Wieviele Venezulaner sind denn mittlerweile in Kolumbien?

Etwa 1.9 Millionen, eine Zahl, die kontinuierlich steigt. Dazu kommen die Tagespendler, die in Kolumbien arbeiten und abends nach Venezuela zurückfahren, und auch venezolanische Kinder, die grenznah leben und in Kolumbien zur Schule gehen.

Ist damit zu rechnen, dass die kolumbianische Regierung ebenfalls die Einreise erschwert?

Bislang hält die Regierung noch an ihrem liberalen, offenen Kurs fest. Sie hat sogar, wie von der UN gefordert, entschieden, dass Flüchtlingskinder, die im Land geboren werden, automatisch die kolumbianische Staatsbürgerschaft erhalten. Aber die Frage ist, wie lange sie das durchhält, wenn alle Nachbarländer einknicken. Kolumbien war nie ein Einwandererland. Durch den langjährigen Bürgerkrieg, der erst vor zwei Jahren beendet wurde, haben Kolumbianer bislang immer in anderen Ländern Zuflucht gesucht. Die aktuelle Situation ist also völlig neu.

Wie reagiert die Bevölkerung?

SOS-Mitarbeiter geben Kindern die Möglichkeit zum Lernen und Spielen und betreuen sie psychologisch. Foto: SOS-Kolumbien

Obwohl die Menschen keinerlei Erfahrungen haben, sind die meisten offen und hilfsbereit. Aber es ist völlig unsicher, wie sich die Situation weiter entwickelt. Dazu kommt: Ganz aktuell haben einige einflussreiche Mitglieder der Guerilla-Truppe FARC den über Jahre ausgehandelten Friedensprozess aufgekündigt. Sowohl die Guerillas als auch der Staat haben in letzter Zeit immer wieder gegen Vereinbarungen verstoßen. Die Sorge im Land ist groß, dass der Bürgerkrieg wieder ausbricht. Für die Flüchtlinge aus Venezuela bedeutet das eine weitere Bedrohung.

Inwiefern?

Die Guerilla-Truppen versuchen bereits, Kinder gegen Geld beim Koka-Pflücken, Drogenhandel oder der Prostitution einzusetzen. Unbegleitete Kinder und Jugendliche sind besonders gefährdet. Auch der Menschenhandel steigt akut an. Als Kinderhilfsorganisation versuchen wir, hier massiv entgegenzusteuern.

Wie hilft SOS konkret?

Wir unterstützen die Menschen in allen Aufnahmeländern, vor allem in den Grenzregionen. Wir leisten Erstversorgung, medizinische Versorgung, fahren schwangere Frauen und Kinder mit dem Bus zu ihrem Ziel, sodass sie nicht laufen müssen, und nehmen unbegleitete Kinder und Familien in den Kinderdörfern auf. Wir haben außerdem provisorische Schulen errichtet und Kinderschutzräume, in denen die Jungen und Mädchen in Sicherheit spielen können und psychologisch betreut werden.

Jetzt bitten die SOS-Kinderdörfer um Spenden für Kolumbien. Warum ist es wichtig, zu helfen?

Damit Kolumbien weiterhin solidarisch sein kann und den Menschen, die in großer Not ist, helfen kann, sind die Hilfsnetzwerke vor Ort ganz wichtig und ebenso die internationale Solidarität! Unsere gemeinsame Sorge muss den Kindern gelten. Sie brauchen unsere Unterstützung dringend!

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