Herr Kutin, was machen Sie am 26. April dieses Jahres, Hermann Gmeiners 20. Todestag (das Interview wurde 2006 geführt, Anm. d. Red.)?
Ich werde in Imst an einer Gedenkmesse teilnehmen, außerdem hat die Stadt einige Ausstellungen organisiert. Klingt sehr offiziell.
Bleibt da noch Platz für Ihr persönliches Gedenken?
Das ist eine Sache, die nur zwischen Hermann Gmeiner und mir stattfindet. Wie in jedem Jahr werde ich sein Grab besuchen - ganz für mich allein.
Sie beide hatten ein enges Verhältnis zueinander. Können Sie sich noch an die erste Begegnung erinnern?
Ich war zwölf Jahre alt und gerade ins SOS-Kinderdorf Imst gekommen. In seinem winzigen Zimmer begrüßte mich Hermann Gmeiner und schaute sich mein Schulzeugnis an. Es war in Italienisch verfasst, da ich in Südtirol aufgewachsen bin, und Gmeiner begann nun einfach auf diesem hochoffiziellen Dokument herumzuschreiben und den Text ins Deutsche zu übersetzen. Ich stand fassungslos daneben. Zu guter Letzt unterschrieb er mit seinem Namen. Das Zeugnis habe ich heute noch!
Diese unkonventionelle Art war typisch für Hermann Gmeiner. Er galt als charismatisch, aber es heißt, er habe Ecken und Kanten gehabt. Was ist damit gemeint?
Bei aller Emotionalität und Herzenswärme war er auch Realist! Wenn es sein musste, konnte er mit der Faust auf den Tisch hauen, da war er ganz der Vorarlberger Bauernsohn.
Sie selbst haben ihn als Vaterfigur bezeichnet.
Das stimmt. Vor allem zu der Zeit, als er noch Leiter des ersten Kinderdorfes in Imst war, war er ein Vater für mich. Später wurde er eine Art Mentor und schließlich ein Freund.
Sie teilten auch ein ähnliches Schicksal.
Wir haben beide als Kinder unsere Mutter verloren, und auch unser späterer Lebensweg verlief ähnlich. Das hat uns verbunden.
Haben Sie ihn oft um Rat gefragt?
Das kam häufig vor, besonders, als ich begann die SOS-Kinderdörfer in Vietnam aufzubauen.
Als Gmeiner Sie fragte, hatten Sie sich gerade mit einem Reisebüro selbständig gemacht - und baten sich drei Tage Bedenkzeit aus.
Aber ich ahnte schon, dass das Reisebüro nicht das Richtige für mich sein würde. Andererseits war Vietnam absolutes Neuland.
Unter schweren Bedingungen bauten Sie schließlich das erste SOS-Kinderdorf in Saigon und später 50 SOS-Kinderdörfer in ganz Asien auf.
Vietnam hat mein Leben geprägt! In diese Zeit fiel auch mein Entschluss, wie Hermann Gmeiner keine eigene Familie zu gründen. 1975 bat ich die Mütter, trotz des Krieges bei den Kindern zu bleiben. Da spürte ich: Wenn ich von ihnen solche Opfer verlange, muss ich auch selbst dazu bereit sein.
Wie viel Bedenkzeit haben Sie später gebraucht, als Hermann Gmeiner Sie fragte, ob Sie sein Nachfolger werden wollen?
"Fragte" ist gut… Es war 1974, als er in Saigon zu mir sagte: "Bleib du mal noch die nächsten zehn Jahre in Asien." Anfang der 80er-Jahre sollte ich plötzlich die Präsidentschaft sofort übernehmen, doch so schnell wollte ich Asien auch nicht verlassen.
1985 war es dann soweit, dass Sie Präsident von SOS-Kinderdorf wurden. Bereits ein Jahr später starb Hermann Gmeiner an Krebs.
Ich hatte mir vorgestellt, dass er mir noch eine Weile zur Seite stehen würde - daraus wurde nichts. Ich war gerade in Lateinamerika, als ich die Nachricht bekam, dass es ihm sehr schlecht gehe. Trotzdem bat man mich, nicht zurück zu kommen, um ihm nicht das Gefühl zu geben, im Sterben zu liegen.
Dabei wären Sie wahrscheinlich am liebsten sofort gefahren.
Mit viel Zittern blieb ich noch eine Woche und kam schließlich kurz vor seinem Tod nach Innsbruck. Die letzten Tage und Nächte verbrachte ich permanent im Krankenhaus.
Hat er Ihnen noch etwas Wichtiges mitgeteilt?
Er bat darum, dass ich mich besonders der Mütter annehmen solle…
…ohne deren Einsatz die SOS-Kinderdörfer gar nicht denkbar wären. Hermann Gmeiner hinterließ schließlich weltweit 222 SOS-Kinderdörfer. Heute sind es 454 Dörfer - mehr als doppelt so viele. Wie werden Sie dieser riesigen Organisation als Präsident noch gerecht?
Alleine ist das nicht mehr machbar; das geht nur, wenn man weltweit gute Mitarbeiter hat.
Glauben Sie, dass Hermann Gmeiner von dieser rasanten Entwicklung überrascht gewesen wäre?
Bestimmt. Er hat schon früher oft gesagt: "Ich kann nicht glauben, dass wir so groß geworden sind!" Auch heute noch werden Hermann Gmeiners Worte häufig zitiert.
Haben Sie ein Lieblingszitat?
Ja, sogar zwei. Das erste lautet: "Nimm dich selbst nicht so wichtig." Das habe ich später noch ergänzt: "Wichtig sind die Kinder und die Mütter." Das zweite stammt eigentlich von Indira Ghandi: Talk less, work more. Gmeiner hat das so ausgedrückt: "Redet's nicht - tut's was!"
Interview: Simone Kosog