Wie viel Leben passt in drei Jahrzehnte?

Die Geschichte von Saleem aus Jordanien

Einer, der viel erlebt und noch mehr zu geben hat: Der Filmemacher, Podcast-Produzent, Autor und Aktivist Saleem Salameh setzt sich für die Rechte von Lesben, Schwulen und Transgender ein. Seine eigene Biographie als ehemaliges Kind der SOS-Kinderdörfer ist dabei faszinierender als so manches Drehbuch.

Saleem verblüfft mich. Er überrascht schon zu Beginn unseres Gesprächs durch Lücken in seinem "Lebenslauf". Denn Saleem kommt in keiner Statistik vor – in keinem Geburtenregister. Wann und wo er geboren sei, möchte ich wissen. Doch die Antwort bleibt Saleem mir schuldig: "Ich denke, ich bin in Jordanien geboren, wahrscheinlich in Amman. Irgendwann im Sommer 1992." Mehr kann er dazu nicht sagen. Mehr kann keiner dazu sagen. Denn Saleem wurde mit fünf Monaten im SOS-Kinderdorf Amman aufgenommen. Seine leiblichen Eltern kennt er nicht. Er weiß nichts über seine Ursprungsfamilie.

Leben im Licht

Die Geschichte eines Findelkindes löst in der Regel Mitleid aus. Doch das ist hier fehl am Platze, denn die eigene Kindheit im Kreise seiner SOS-Kinderdorffamilie sieht unser Protagonist als das vielleicht größte Geschenk seines Lebens an. Er strahlt, wenn er über die erste Dekade seines Lebens spricht. Redet von Liebe, Fürsorge, Respekt, Geborgenheit und Sicherheit – "full of light, full of love, full of play. But love was above it all." Wenn Saleem sich in Superlativen verliert, hat das etwas mit seiner SOS-Kinderdorfmutter zu tun – oder einfach "Mutter", wie er sie nennt. Denn sie war für ihn da, nahm ihn in ihre Familie auf und ist noch immer Teil seines Lebens – seine "Mom". Genau wie die anderen "Schwestern und Brüder", mit denen er im Kinderdorf aufgewachsen ist.

"Die Zeit im Kinderdorf war magisch, und das sage ich mit tiefster Überzeugung. Ich hatte eine perfekte Kindheit."

Familie hat für Saleem nichts mit Blut oder DNA zu tun. Familie ist das, was ihn "resilient", was ihn stark machte. "Meine Mutter hatte damals für uns alle eine Atmosphäre geschaffen, in der wir uns frei entfalten und voneinander lernen konnten, in der wir geliebt wurden", schwärmt Saleem. Zu seiner gesamten Familie hat der in Amsterdam lebende Künstler intensiven Kontakt, die Geschwister sowie die mittlerweile pensionierte Kinderdorfmutter besuchen einander noch immer regelmäßig und reisen dafür quer durch Europa.

Seine SOS-Kinderdorfmutter war für Saleem da, nahm ihn in ihre Familie auf und ist bis heute Teil seines Lebens. Fotos: privat

Dank seiner Kindheit im SOS-Kinderdorf hat Saleem eine innere Stärke erlangt, eine Art Schutzschild, das die eigene Seele schützt. Dazu bedarf es nur eines Menschen, der an Dich glaubt und Dich bestärkt, Deinen eigenen Weg zu gehen. "Dieser Mensch war meine Mutter, denn sie hat immer an mich geglaubt, war immer für mich da."

Die Reise beginnt

Nach seinem Schulabschluss ging der Bildungsweg für Saleem mithilfe eines Stipendiums am College weiter. Er träumte damals schon davon, Film und Fotografie zu studieren. Das wusste auch eine Spenderin, die ihn bereits seit seiner Kindheit über die SOS-Kinderdörfer als Patin unterstützte. "Diese Frau, zu der ich auch heute noch eine freundschaftliche Verbindung habe, erfuhr von meinen künstlerischen Zukunftsplänen, und dass ich auf dem College bereits die Fächer Film und Fotografie belegte. Daraufhin schenkte sie mir eine Fotokamera, mit der ich das Handwerk erlernen sollte." 

Die Fotografie lag Saleem so sehr, dass er die SOS-Kinderdörfer bat, ihm die Chance zu geben, dort eine eigene Ausstellung zu organisieren, mit Bildern von Kindern, die Saleem in den Kinderdörfern von Jordanien fotografierte. „Ich wollte den Menschen da draußen zeigen, wie junge Menschen in den SOS-Kinderdörfern leben. Und ich selber wollte eine Reise in die Vergangenheit unternehmen. Nach der Ausstellung haben mich die SOS-Kinderdörfer mit einem namhaften deutschen Automobilhersteller zusammengebracht, der ein großes Autohaus in Amman besitzt. Die waren von meinen Bildern so angetan, dass sie eine eigene Ausstellung in ihren Verkaufsräumen veranstalteten." Als die Ausstellung eröffnet wurde, waren auch Repräsentanten von Königin Ranias Stiftung vor Ort, die das Talent von Saleem erkannten und ihm ein Stipendium für die beste private Filmhochschule in Amman ermöglichten. Das Studium war nach der Zeit im Kinderdorf das Beste, was Saleem in seinem Leben widerfuhr. Es war ein unglaublich kreativer Raum, in dem man auf einmal so viele Freiheiten hatte.

Den Mut aufbringen, so zu leben, wie man ist

Im zweiten Jahr seines Studiums fühlte Saleem sich vollends integriert. Er war glücklich, gehörte dazu. Da begann er, in dieser ihm vertrauten und sicheren Umgebung, sich selbst zu verwirklichen, aus sich herauszugehen, sich zu öffnen. Auch, was seine eigene Sexualität anging: "In der Schule lernte ich immer mehr schwule, lesbische und queere Menschen kennen. Denn dieser kreative Ort gab uns allen die Möglichkeit, die Maske abzulegen, die ein Großteil der jordanischen Gesellschaft Dir als queere Person noch immer aufzwingt."

"Als ich klein war, ließ mir meine Kinderdorfmutter alle Freiheiten, ich konnte anziehen, was ich wollte, spielen, was ich wollte, mich geben, wie ich wollte. Doch erst jetzt verstand ich, wie privilegiert ich damals schon war mit meiner Mom."

Mit diesem neuen Selbstbewusstsein auf der Filmschule begann Saleem, sich als queer zu outen, als ein Mensch, der nicht nur ein Geschlecht liebt, als einer, der von der heterosexuellen Norm abweicht. Durch seine Freunde in der Schule lernte Saleem nach und nach auch Menschen aus der LGBTIQ*-Community in Amman kennen. Jedoch war er durch die Schule mit Menschen in Kontakt gekommen, die allesamt ein sehr privilegiertes Leben führten. Saleem war aufgrund seiner Herkunft klar, dass er sich in einer "Blase" bewegte, und es andere queere Menschen gibt, die sich niemandem offenbaren können und auf sich allein gestellt sind.

Saleem – Künstler, Mentor und Aktivist

Gegen Ende des zweiten Jahres an der Filmhochschule besuchte Saleem 2015 seine Schwester, die mittlerweile in Innsbruck lebt. Diesen Trip verband er mit einem Abstecher nach Berlin. Eine Rikscha-Fahrt dort stellte erneut die Weichen für die Karriere von Saleem. Denn der Fahrer war hauptberuflich Kameramann, der ihm von einer Produktionsfirma in Amsterdam erzählte. Als Saleem nach Amman zurückgekehrt war, bewarb er sich dort. "Es kann kein Zufall gewesen sein, dass die Firma sich einen Tag später bei mir meldete und mir sagte, dass sie dringend einen Filmemacher suchen für eine Dokumentation über erfolgreiche Frauen in Jordanien." Und so hatte Saleem seinen ersten richtigen Auftrag an Land gezogen.

Die Arbeit mit der Produktionsfirma lief so gut, dass Saleem – nach ein paar gemeinsamen Filmprojekten in Jordanien – 2018 ganz nach Amsterdam zog, auch, um dort seinen Master-Studiengang als Filmschaffender zu bestreiten. Wieder einmal schaffte er dies durch die Vergabe eines Stipendiums, diesmal finanziert von den SOS-Kinderdörfern weltweit. „Als ich nach Amsterdam gezogen war, habe ich mich sofort nach einer ehrenamtlichen Tätigkeit für eine LGBTIQ*-Organisation umgesehen und wurde kurze Zeit später fündig.“

In Amsterdam – seiner neuen Heimat – setzt Saleem sich für die LGBTIQ-Gemeinde ein.

Saleem unterrichtet dort Film, Podcast und Drehbuch. Außerdem hat er seinen eigenen arabischen Podcast mit dem Titel "A3deh", der von einer jordanischen Organisation mit produziert wird. "Das ist die Möglichkeit für mich, mit der LGBTIQ*-Bewegung in Jordanien in Kontakt zu bleiben und mich entsprechend einzubringen." Die Geschichten seiner queeren Landsleute zeigen Saleem immer wieder auf, wie privilegiert er mittlerweile in Amsterdam lebt. "Ich kenne viele Menschen, für die es zu gefährlich ist, sich zu outen. Gerade in Jordanien und den Balkan-Staaten. Gesellschaftliche, familiäre und politische Hürden machen es vielen Lesben, Schwulen und Transgender auf der ganzen Welt so gut wie unmöglich, aus dem Schatten zu treten. Man muss sich dafür in einem sicheren Umfeld befinden und die richtige Zeit abwarten. Manchmal ist es schon ein Anfang, sich einer einzigen Vertrauensperson zu offenbaren."

Blut ist nicht dicker als Wasser

Vor seiner SOS-Kinderdorfmutter hat Saleem sich erst vor ein paar Jahren geoutet, als sie ihn in Amsterdam besuchte. „Ihre Reaktion war so wundervoll und damit so einschneidend für mich, dass ich merkte: Ihr Verständnis war genau das, was ich mein ganzes Leben gebraucht hatte. Sie sagte, dass sie es immer schon wusste, mich aber nicht bedrängen wollte. Diese vollkommene Offenheit rief ein Gefühl der Erleichterung in mir hervor, dass ich nur schwer beschreiben kann."

"Zu wissen, dass Deine Mutter Dich nach dem Coming-Out genauso liebt wie davor, ist ein Gefühl, dass ich für nichts in der Welt eintauschen würde. Es ist ein Schatz, den ich in mir in trage, solange ich lebe.“

Familie hat für Saleem nichts mit Blut oder DNA zu tun. Familie ist das, was ihn stark machte. Seine SOS-Kinderdorfmutter spielte bei diesem Prozess eine entscheidende Rolle.

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