15. März 2016 | PRESSEMITTEILUNG

„Am Anfang war es merkwürdig, keine Explosionen und Schüsse zu hören“

Interview mit Abeer Pamuk (24), Mitglied im Nothilfe-Team der SOS-Kinderdörfer in Syrien über fünf Jahre Krieg und die Hoffnung auf Frieden

SOS-Mitarbeiterin Abeer Pamuk (24)

Frau Pamuk, der Bürgerkrieg in Syrien dauert jetzt schon 5 Jahre. Wie ist es, in einem so langen Konflikt zu leben?
Die Bomben und der Granatbeschuss ist gar nicht das Schlimmste. Daran gewöhnt man sich. Aber den Mangel an Wasser, Elektrizität, Medizin und vieler anderer im Grunde selbstverständlicher Dinge, den kann man nicht vergessen. Krieg hat Einfluss auf jedes Detail unseres Lebens. Krieg ist, wenn dein Haus oder deine Wohnung ein dunkler, kalter Ort wird. Du sitzt mit deiner Familie im selben Zimmer, aber du kannst ihre Gesichter nicht sehen. Du siehst nur ihre Schatten. Krieg ist, wenn du eine Kerze brauchst, um zu essen oder lernen zu können. Krieg ist, wenn du den Tag mit dem Gedanken beginnst: „Wo bekomme ich heute Trinkwasser her?“ Und wenn du am Abend einschläfst und deinen Atem sehen kannst, weil es so kalt in der Wohnung ist.
 
Wie geht es den Menschen?
Nach fünf Jahren Krieg fühlen die Menschen, dass sie kaum mehr sind als eine Zahl auf einer internationalen Tabelle. Sie sind nicht mehr in der Lage, für sich selbst zu sorgen, sind auf Hilfe angewiesen. Und sie haben gelernt, dass sie niemals sicher sind, nirgendwo. Selbst nicht in der eigenen Wohnung.
 
Wie empfinden die Menschen in Syrien den Waffenstillstand?
Am Anfang war es sehr merkwürdig, besonders in Aleppo, einer stark zerstörten Stadt. Man wachte auf und das stete Hintergrundgeräusch von Explosionen, Schüssen oder Krankenwagen mit Sirenen fehlte. Wir konnten auf einmal Vögel singen hören!
 
Was verstehen die Menschen unter Frieden nach fünf Jahren Krieg?
Das ist sehr unterschiedlich. Ich fragte einen 9-jährigen Jungen und er fragte zurück: „Frieden? Was ist das? Meine Eltern haben mir erzählt, dass ich früher Spielsachen hatte und auf der Straße mit anderen Kindern spielen konnte. Wenn das Frieden ist, finde ich es toll.“ Ein 75-jähriger Gewürzverkäufer erzählte mir, er würde gern noch einmal in seinem Leben seinen Laden in der Altstadt aufschließen, um dort eine Tasse Tee zu trinken.
 
Sie haben zu Beginn des Krieges Englische Literatur in Aleppo studiert?
Ja, ich begann mit meinem Studium 2010, aber kurz danach musste ich in den Libanon flüchten. Ich kehrte aber zurück, weil ich helfen wollte und kam zum Nothilfe-Team der SOS-Kinderdörfer. Nebenbei habe ich in Aleppo weiterstudiert und vor kurzem mein Examen abgelegt.
 
Wie ist es, in der „gefährlichsten Stadt der Welt“ zu studieren?
Leider ist jede meiner Klausuren mit dem Tod eines Bekannten verbunden. Einmal starben sogar zwei Freunde, sie waren Brüder und wurden von einer Rakete zerfetzt. Ein andermal wurde eine 24-jährige Bekannte von einem Heckenschützen erschossen. Die Kugel  ging erst durch den Radioapparat und dann durch ihren Kopf. Keiner von uns Studenten hat je bei normalem Licht studiert. Ich erinnere mich nur an Lernen bei flackerndem Kerzenlicht. Und Hintergrundgeräusch waren immer Explosionen, die manchmal so nah waren, dass das Haus wackelte.
 
Wie gefährlich ist es, für eine Hilfsorganisation zwischen den Fronten unterwegs zu sein?
In der Regel werden die SOS-Kinderdörfer als neutral anerkannt und das wird entsprechend honoriert. Aber als wir kürzlich in der belagerten Stadt Madaya waren, um uns um die Kinder zu kümmern, hatte ich kein gutes Gefühl. Glücklicherweise ist nichts passiert. Vergangenes Jahr wurde ein SOS-Kollege entführt. Wir hatten sehr große Angst um ihn. Aber er kam nach drei Wochen wieder frei.
 
Was erhoffen Sie sich für die Zukunft?
Der Waffenstillstand ist eine Chance für uns Syrer, den Kopf aus dem Wasser zu heben und für eine Sekunde kurz und tief einzuatmen. Und wir alle hoffen, dass der Waffenstillstand nur ein Schritt auf dem Weg zu richtigem Frieden ist.
 
München 15.3.16
 
Louay Yassin
Pressesprecher
SOS-Kinderdörfer weltweit
Tel: 089 17914-259
Mail: louay.yassin@sos-kd.org
www.sos-kinderdoerfer.de

Abonnieren Sie unseren Newsletter

Erhalten Sie regelmäßig Informationen zu aktuellen Projekten.

Ihre Spende an die SOS-Kinderdörfer weltweit können Sie von der Steuer absetzen. Die SOS-Kinderdörfer weltweit sind als eingetragene gemeinnützige Organisation anerkannt und von der Körperschaft- und Gewerbesteuer befreit. (Steuernummer 143/221/91910)