24. Januar 2008 | PRESSEMITTEILUNG

„Bisher wusste ich gar nicht, zu welcher Volksgruppe meine Mitarbeiter gehören!“

Interview mit Keith Castelino, Nationaler Direktor von SOS-Kinderdorf Kenia, über die aktuelle Situation im Land und die Hilfsmaßnahmen der SOS-Kinderdörfer

Nairobi/München - Seit den Wahlen Ende Dezember herrscht in Kenia der Ausnahmezustand. Die Gewalt zwischen den Volksgruppen ist eskaliert, allein in der Stadt Eldoret sollen mindestens 200 Menschen ermordet worden sein. Im Interview spricht Keith Castelino, Nationaler Direktor von SOS-Kinderdorf Kenia, über die Situation im Land und die Hilfsmaßnahmen der SOS-Kinderdörfer.

Mr. Castelino, soeben sind 45 unbegleitete Flüchtlingskinder im SOS-Kinderdorf Nairobi eingezogen. Wie geht es ihnen?
Sie sind sehr verängstigt und traumatisiert. Sie haben ihr Zuhause verloren und die brutalen Ausschreitungen miterlebt. Ihre Eltern sind verschollen oder tot, bei vielen Kindern ist unklar, ob es überhaupt noch Angehörige gibt, die sie aufnehmen könnten.

Wo haben Sie die Kinder untergebracht?
Wir haben sie auf die Familien verteilt. Die Großzügigkeit und Selbstlosigkeit, mit der unsere Kinderdorf-Mütter ihre Häuser geöffnet haben, kann ich gar nicht hoch genug schätzen. Alle waren sofort einverstanden, und das, obwohl sie ohnehin viel tragen müssen. Auch die SOS-Kinder haben wir bewusst mit einbezogen, denn sie müssen ja ihren Platz ebenfalls teilen. Bisher klappt das ausgesprochen gut.

Wird es bei den 45 Flüchtlingskindern bleiben?
Mit Sicherheit nicht, schon jetzt ist abzusehen, dass der Bedarf viel größer ist.
Neben dem SOS-Kinderdorf Nairobi haben wir Dörfer in Eldoret, Meru und Mombasa, die wir alle füllen werden, solange wir Platz haben.

Parallel dazu haben die SOS-Kinderdörfer ein umfangreiches Nothilfeprogramm gestartet.
Bereits in den ersten Tagen nach den Unruhen haben wir im Kleinen geholfen. Unsere Kinder haben zum Beispiel auf eine Mahlzeit in der Woche verzichtet und diese den Flüchtlingskindern überlassen. Jetzt haben wir in Zusammenarbeit mit dem Roten Kreuz und anderen Organisationen umfangreiche Maßnahmen für 2000 Menschen eingeleitet. Wir versorgen Familien, vor allem alleinstehende Frauen und ihre Kinder, mit Lebensmitteln, Medikamenten und dem Nötigsten.

Gibt es für die Flüchtlingskinder, die im Kinderdorf untergebracht sind, spezielle Programme?
Zunächst einmal ist wichtig, ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass sie in Sicherheit sind und an einem Ort, an dem es die Menschen gut mit ihnen meinen. Die Jungen und Mädchen werden wenn nötig medizinisch versorgt und sie bekommen professionelle Hilfe bei der Überwindung ihrer Traumata. Ansonsten sollen sie ein möglichst normales Leben führen können, dazu gehört auch, dass sie in die Schule gehen. Die SOS-Kinderdörfer sind bereits seit Anfang der 70er Jahre in Kenia vertreten und profitieren enorm von der langjährigen Erfahrung mit traumatisierten und verlassenen Kindern. Gleichzeitig werden wir in Zusammenarbeit mit der Regierung versuchen, Familienangehörige der Kinder zu finden.

Die Gefechte und Massaker zwischen den Volksstämmen nehmen kein Ende. Sind die SOS-Kinderdörfer ebenfalls bedroht?
Zum Glück nicht direkt, aber die Angst und Anspannung ist natürlich auch bei uns zu spüren. Einige unserer Mitarbeiter haben sich in den ersten Tagen nicht getraut, ihr Haus zu verlassen und sind nicht zur Arbeit erschienen. Zeitweise hatten wir sie im Kinderdorf untergebracht, inzwischen sind einige von ihnen übergangsweise zu Kollegen gezogen, die in sicheren Vierteln wohnen.

Auch in den Kinderdörfern leben ja Kinder, Mütter und Mitarbeiter der verschiedenen Volksgruppen zusammen. Führt das schon mal zu Problemen?
Es war bisher nie ein Thema! Die Auseinandersetzungen zwischen den Stämmen waren, wenn überhaupt, bisher ein Problem der ländlichen Bevölkerung. In der Stadt spielte die Abstammung keine Rolle und im Kinderdorf sowieso nicht. Von den meisten meiner Mitarbeiter wusste ich bisher überhaut nicht, welcher Gruppe sie angehören. Jetzt muss ich fragen, um sicherzustellen, dass sie nicht in Gefahr sind. Das ist für mich eine völlig neue Erfahrung.

Wie reagieren die Kinder auf den Konflikt?
Ein Beispiel: Einer unserer Dorfleiter gehört zu einem anderen Volksstamm als seine Frau und nun fragte ihn sein Sohn: „Papa, was bin ich denn?“ Seine Antwort: „Wenn du wissen willst, auf welcher Seite du stehst, dann würde ich sagen, auf der Seite des Friedens, der Einheit, der Gerechtigkeit.“

Wie erklären Sie den Kindern, was da gerade in ihrem Land passiert?
Ich versuche, ihnen zu vermitteln, dass es die verfeindeten Lager nicht schaffen, die Position der anderen zu verstehen. Und dass es in Kenia ein Ungleichgewicht gibt: Einige Menschen haben mehr Land als andere, eine bessere Erziehung, mehr Geld. Das schafft Konflikte.

Wie schätzen Sie die weitere Entwicklung in Kenia ein?
Kenia hat ernsthafte soziale Probleme, die dringend gelöst werden müssen, aber das wird nicht von heute auf morgen passieren. Ich kann nur hoffen, dass die Gefechte bald ein Ende haben werden, weil die Menschen schlichtweg wieder Geld verdienen müssen! Abgesehen von allem anderen macht Kenia derzeit riesige wirtschaftliche Verluste, weil viele Menschen nicht zur Arbeit gehen, und natürlich auch, weil die Touristen ausbleiben. In einem 100-Betten-Hotel in Mombasa, das normalerweise voll ist, übernachten derzeit fünf Gäste, und die Flugzeuge aus Frankreich oder Holland sind nahezu leer.

Wie können die Menschen in Europa helfen?
Es kommt immer wieder vor, dass Unterstützer Hilfsgüter schicken wollen. Das ist gut gemeint, aber nicht sinnvoll: Am Flughafen Mombasa zum Beispiel stapelt sich das Gepäck, das Personal kommt nicht hinterher, so dass es drei bis vier Wochen dauern kann, bis man eine Lieferung bekommt. Das einzige, das uns wirklich hilft, ist Geld, mit dem wir unsere Hilfsmaßnahmen und die Versorgung der Kinder bezahlen können. Dafür sind wir enorm dankbar!

Keith Castelino steht bei Interesse für ein Telefoninterview zur Verfügung.

Aus Angst vor den Gewaltausbrüchen sind in Kenia nach Schätzungen der Vereinten Nationen mehr als 250.000 Menschen aus ihren Häusern geflohen. Rund die Hälfte der Flüchtlinge sind Kinder.
Die Situation der Menschen ist schwierig, und sie sind auf sofortige Hilfe angewiesen. Dringend benötigt werden Unterkünfte, sauberes Wasser, Lebensmittel und Medikamente. In den am schlimmsten von den Unruhen betroffenen Regionen im Westen Kenias sind nach Schätzungen rund 50 000 Kinder sowie 5 600 Schwangere oder stillende Mütter von Mangelernährung bedroht.

Die SOS-Kinderdörfer bereiten nun auch einige Nothilfemaßnahmen vor. Die Schwerpunkte sind:

  • Unterstützung für 2000 Kinder und bedürftige Erwachsene in Eldoret, Mombasa und Nairobi
  • Schutz der Kinder
  • Zusammenführung von Familien
  • Psychosoziale Unterstützung für traumatisierte Menschen
  • Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern

Die Aktion ist zunächst für sechs Monate geplant, hängt aber von der Notwendigkeit und den weiteren politischen Entwicklungen ab.

Für die Schaltung des Spendenkontos sind wir dankbar:

SOS-Kinderdörfer weltweit
111 1 111 (siebenmal die Eins)
BLZ 700 700 10
Deutsche Bank München
Stichwort: SOS-Kenia

München, den 24. Januar 2008

Bei Rückfragen:
SOS-Kinderdörfer weltweit
Hermann-Gmeiner-Fonds Deutschland e.V.
Kommunikation - Ingrid Famula
Tel.: 089/179 14-261 bis -264, Fax: 089/179 14-260
E-Mail: kommunikation@sos-kinderdoerfer.de
Homepage: http://www.sos-kinderdoerfer.de

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