14. Februar 2024 | NEWS

Pressestatement von Serhii Lukashov

Leiter der SOS-Kinderdörfer in der Ukraine

Vernachlässigt, verlassen, nach Russland entführt: Kinder ohne Eltern sind die größten Opfer des Krieges / Die SOS-Kinderdörfer setzen sich für ihren Schutz ein – und eine radikale Reform des ukrainischen Kinderbetreuungssystems.

Nationaler Direktor der SOS-Kinderdörfer Ukraine Serhii Lukashov Foto: SOS-Kinderdörfer

"Nach zwei Jahren Krieg in der Ukraine drohen immer mehr Familien zu zerbrechen. Väter sind an der Front, während die Mütter und Kinder ins Ausland geflohen sind, Familienhäuser sind zerstört, Ersparnisse aufgebraucht, soziale Gefüge auseinandergerissen. Bereits im ersten Halbjahr 2023 haben Scheidungen um ein Drittel zugenommen. Im schlimmsten Fall werden Familienangehörige verletzt oder getötet. Laut dem ukrainischen Ombudsmann Dmytro Lubinets haben bis September letzten Jahres 10.153 Kinder mindestens ein Elternteil verloren, 1.610 von ihnen haben niemanden mehr, der sich um sie kümmert.

Man muss also kein Prophet sein, um zu wissen, dass bald sehr viel mehr ukrainische Kinder auf alternative Betreuung angewiesen sein werden. Als Kinderhilfsorganisation ist es eines unserer wichtigsten Ziele, dass sie liebevoll und familiennah untergebracht werden. Seit Jahren setzen wir uns für eine umfassende Reform des Kinderbetreuungssystems in der Ukraine ein.  

Den Krieg als Chance nutzen, kinderfeindliche Betreuungssystem abzuschaffen  

Gängige Praxis des ukrainischen Staates war bisher, die Kinder in großen, anonymen Heimen unterzubringen, in denen sie unter schlimmen Umständen aufwuchsen und eher verwahrt anstatt geliebt wurden. Der Prozentsatz der jungen Menschen, die in solchen Heimen lebten, war erschreckend hoch, nämlich 1,3 Prozent der Gesamtbevölkerung, etwa 100.000 Kinder. Hauptgrund für diese alarmierende Zahl: 92 Prozent waren keine Waisen, sondern konnten - durften - aus unterschiedlichen Gründen nicht bei ihren Familien bleiben. Oft waren Armut und wirtschaftliche Probleme die Ursache, und anstatt in Not geratene Eltern zu unterstützen, wurden ihnen die Kinder genommen. Das muss sich ändern. Dieser schreckliche Krieg ist für nichts gut, aber wir sollten ihn als Chance nutzen, dieses kinderfeindliche Betreuungssystem abzuschaffen.

Heimkinder waren den russischen Besatzern schutzlos ausgeliefert

Als der Krieg ausbrach, konnten glücklicherweise etwa drei Viertel der Kinder von ihren Eltern aus den Heimen geholt und in Sicherheit gebracht werden. Für diejenigen aber, die zurückblieben, war die Situation katastrophal. Viele Betreuer flohen aus Angst um ihr eigenes Leben und das ihrer Familien und ließen die Kinder alleine zurück. Es waren vor allem diese jungen Menschen, die den russischen Besatzern schutzlos ausgeliefert waren und vielfach nach Russland deportiert wurden. Wir wissen von über 19 000 nach Russland entführten Kindern, die tatsächliche Zahl dürfte weitaus höher sein. Sie wurden versteckt, ihre Identität wurde geändert, immer wieder haben wir von Brainwashing gehört. Es ist zu befürchten, dass viele dieser Kinder für immer verloren sind. Innerhalb von zwei Jahren konnte die Ukraine nur 388 deportierte Kinder mit ihren Familien zusammenführen; 84 Kinder davon haben die SOS-Kinderdörfer und ihre Partnerorganisationen zurückgebracht. Wir arbeiten weiter daran - und appellieren an unsere Partnerländer, den Druck auf die Russische Föderation zu erhöhen.  

Gleichzeitig ist es uns wichtig, Verbesserungen innerhalb der Ukraine voranzutreiben. Die Unterbringung verlassener Kinder muss den europäischen Standards angepasst werden, mit den Kinderrechten als Maßstab.   

Kinder haben ein Recht darauf, in einem familiären und liebevollen Umfeld aufzuwachsen, wie es in den SOS-Kinderdörfern der Fall ist oder auch in Pflegefamilien. In vielen Regionen haben wir Pflegefamilien-Systeme aufgebaut und zukünftige Eltern geschult. Mit fortlaufendem Krieg wächst die Dringlichkeit. Ich erinnere mich an ein Geschwisterpaar, Bruder und Schwester, die bei ihrem Vater aufwuchsen. Beim Beschuss des Familienhauses wurde der Vater getötet. Die Kinder befanden sich in einem Schockzustand, sodass wir unmittelbar psychologische Hilfe leisteten und sie anschließend in einer sicheren Region vorübergehend unterbrachten. Es gelang uns dann mit Unterstützung der Sozialdienste, die Kinder in einer Pflegefamilie unterzubringen, die aus der gleichen Gemeinde wie sie geflohen war. Es geht ihnen gut dort. Wir sind in regelmäßigem Austausch mit den Pflegeeltern und unterstützen sie weiterhin.

Kinder nicht erneut im Stich lassen  

Die SOS-Kinderdörfer setzen sich außerdem auf politischer Ebene für die Reform der Kinderbetreuung ein, und wir unterstützen im ganzen Land gefährdete Familien, um sie vor dem Zusammenbrechen zu bewahren. Auch dies muss künftig Standard werden: dass Familien in Not passgenau geholfen wird, anstatt Kinder vorschnell von ihren Eltern zu trennen. Finanzielle Anreize für Gemeinden können diesen Ansatz unterstützen. Umgekehrt müssen internationale Geber Mittel von Institutionen abziehen, in denen Kindern Schaden nehmen.

Es gibt positive Anzeichen: Olena Selenska, die Frau des Präsidenten, unterstützt die Reform, und die Regierung hat ein Ministerien-übergreifendes Gremium eingerichtet, das sich mit dem Thema befasst. Es wird höchste Zeit. Denn keiner kann wollen, dass Kinder nach dem Krieg erneut in großen, anonymen Heimen landen – in denen sie bereits vor und während des Krieges im Stich gelassen wurden."

Serhii Lukashov

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