„Vielen Kindern fällt es leichter, schlimme Erlebnisse zu malen als darüber zu sprechen“

68 Kinder aus dem SOS-Kinderdorf Rafah in Gaza sind Mitte März erfolgreich nach Bethlehem im Westjordanland evakuiert wurden. Der Psychologe Mutaz Lubbad hat die Kinder begleitet. Im Interview spricht er über ihre psychologische Verfassung.

Herr Lubbad, wie geht es den Kindern?

Nach fünf Monaten Krieg haben sie zum ersten Mal wieder das Gefühl, geschützt zu sein. Das steht aktuell über allem: Wir haben überlebt und sind in Sicherheit! Aber die Kinder sind sehr erschöpft und müssen sich vom Krieg und von der anstrengenden Reise erholen.

Wie unterstützen Sie sie dabei?

Wir geben ihnen Zeit und helfen ihnen, ein Gefühl für ihre neue Umgebung zu bekommen. Keines der Kinder hat Gaza je zuvor verlassen. Wir machen Stadtrundgänge, bieten Freizeitaktivitäten an, wir spielen Fußball, gestern hatten wir einen Zauberer zu Besuch. Und jeden Tag treffen wir uns zu Achtsamkeits-Runden. Das sind alles Dinge, die helfen zu entspannen und anzukommen. Daneben braucht es gezielte psychologische Unterstützung.

Im SOS-Kinderdorf Rafah in Gaza waren die Kinder gut versorgt, aber Krieg und Bombardierungen waren auch dort allgegenwärtig. Was hat das mit ihrer Psyche gemacht?

Die Auswirkungen sind vielfältig: Angst, Unruhe, Schlafstörungen, Probleme in der Begegnung mit anderen, Entwicklungsrückschritte. Viele dieser Dinge holen sie auch hier in Bethlehem ein: Ein Kind kam zu mir und sagte, dass es nach wie vor nicht schlafen könne. Andere sprechen bislang überhaupt nicht über ihre Erlebnisse, und wieder andere können einfach nicht spielen.

Wie reagieren Sie als Psychologe in diesen Fällen?

Das ist sehr individuell. Wichtig ist, behutsam vorzugehen und die Kinder nicht zu drängen.
Manchen hilft eine Gruppentherapie, andere brauchen gezielte Einzelbetreuung. Oft ist die Kunsttherapie ein guter Weg: Vielen Kindern fällt es leichter, schlimme Erlebnisse oder ihre Gefühle zu malen als darüber zu sprechen. In Gaza war das für uns ein ganz wichtiger Zugang.

Wie kann man sich das vorstellen?

Jedes Kind im SOS-Kinderdorf Rafah hat ein Buch gestaltet: „Meine Lebensgeschichte in Gaza“, mit Texten, Bildern, ganz, wie es wollte. Den Kindern hat die Arbeit an dem Buch Spaß gemacht und geholfen, ihre Erlebnisse zu verarbeiten. Es war entlastend für sie, eine Form zu finden, um Schrecken, Schmerz und Angst auszudrücken. Uns haben die Bilder und Texte gezeigt, wie es den Kindern geht, in welcher Verfassung sie sind und wie wir sie am besten unterstützen können. Wir haben alle Bücher mit nach Bethlehem genommen.

Auch die Betreuerinnen der Kinder sind mitgereist. Wie geht es ihnen?

Sie sind sehr gefordert. Im Mittelpunkt stand die Sorge um die Kinder und sie haben versucht, ihre eigenen Gefühle zurückzuhalten. Aber natürlich sind auch sie durch große Ängste gegangen. Es ist wichtig, dass wir sie ebenfalls psychologisch unterstützen.

Wie lange wird es dauern, bis Kinder und Erwachsene das Erlebte einigermaßen überwunden haben?

Das kann wenige Woche bis Monate oder länger dauern. Aber wir haben jetzt gute Voraussetzungen: Die Grundbedürfnisse sind erfüllt - eine wichtige Basis, damit Heilung geschehen kann.

In Gaza geht die Arbeit der SOS-Kinderdörfer ebenfalls weiter. Ihre Kollegen und Kolleginnen unterstützen Kinder und Familien. Welche Hilfe ist überhaupt möglich, wenn gleichzeitig Krieg herrscht?

Im SOS-Kinderdorf Rafah unterstützen wir insbesondere Kinder, die im Krieg ihre Familie verloren haben. Obwohl sie zum großen Teil schwere Traumata mitbringen, sehen wir, wie sich ihr Zustand mit Ruhe, Fürsorge und psychologischer Unterstützung verbessert. Wir unterstützen außerdem Familien durch “Psychologische Erste Hilfe“. Wir zeigen ihnen einfache Techniken, mit deren Hilfe sie zumindest zeitweise entspannen und besser mit dem Stress umgehen können. Ich finde das sehr wichtig.

Abonnieren Sie unseren Newsletter

Erhalten Sie regelmäßig Informationen zu aktuellen Projekten.

Ihre Spende an die SOS-Kinderdörfer weltweit können Sie von der Steuer absetzen. Die SOS-Kinderdörfer weltweit sind als eingetragene gemeinnützige Organisation anerkannt und von der Körperschaft- und Gewerbesteuer befreit. (Steuernummer 143/221/91910)