"Emotionale Sicherheit ist ein Muss"

Kinder, die beim Erdbeben in Marokko zu Waisen geworden sind, finden im SOS-Kinderdorf bei Marrakesch ein neues Zuhause. Für die Mitarbeiter:innen vor Ort wird dies eine Mammutaufgabe. Die Psychologin des Kinderdorfes, Meryem Abou Hafs, haben wir gefragt, wie sie sich auf die Ankunft der traumatisierten Kinder vorbereitet.

Meryem Abou Hafs ist Psychologin im SOS-Kinderdorf Aït Ourir bei Marrakesch. 

Diese Kinder haben viel verloren – ihre Eltern, ihr Zuhause, einfach alles. Was können Sie zu diesen Kindern sagen?

Die Kinder trauern um den Verlust ihrer Eltern, um den Verlust einer Routine, um den Verlust eines Lebens, das sie kannten. Und jetzt wird alles neu für sie sein. Für Kinder, die in diesem Moment trauern, ist es ein Muss und ein Bedürfnis, ihre Gefühle auszudrücken, aber nicht auf direkte Art und Weise. Wir können mit Geschichten oder Zeichnungen arbeiten. Zum Beispiel können wir die Geschichte eines Kindes erzählen, das dasselbe Erdbeben erlebt hat. Durch dieses Medium wird das Kind versuchen, die ganze Erfahrung aus einem anderen Blickwinkel zu verarbeiten und zu verstehen und wird erkennen: "Oh, ich kann mich mit dieser Geschichte und dem Helden oder der Heldin dieser Geschichte identifizieren." Wichtig ist, dass das Kind nicht das Gefühl hat: "Ich bin ein Opfer. Ich bin passiv." Stattdessen sollten wir versuchen, einen Weg zu finden, der den Kindern das Gefühl vermittelt, dass wir etwas gegen diese Situation tun können.

Welche Emotionen und Verhaltensweisen können wir von diesen traumatisierten Kindern, die ins SOS-Kinderdorf kommen, erwarten?

Bei Kindern, die ein solch traumatisches und stressiges Ereignis erlebt haben, können wir davon ausgehen, dass eine Gruppe von ihnen sehr emotional sein wird. Das bedeutet, dass sie viel weinen, viel schreien, übererregt sind und ähnliche Symptome zeigen werden. Es kann auch sein, dass sich die Kinder wie betäubt fühlen. Das bedeutet, dass es für sie schwer sein wird, Gefühle auszudrücken oder sogar Gefühle zu empfinden, weil sie nach dem Trauma nur noch funktionieren und nichts fühlen. Wir werden auch Kinder haben, die aggressiv werden und Schimpfwörter verwenden. Bei anderen Kindern werden wir wiederum beobachten, dass sie ängstlich oder depressiv werden. Anstatt zu schimpfen oder aggressiv zu sein, reden diese Kinder überhaupt nicht mehr. Sie reagieren nicht und man kann ihre Gefühle von außen nicht erkennen. Wir erwarten also ein Spektrum von Emotionen und ein Spektrum von Symptomen.

In diesem SOS-Kinderdorf in der Nähe von Marrakesch werden nach dem Erdbeben 32 verwaiste Kinder ein neues Zuhause finden. Foto: Sebastien Taylor

Was muss Ihrer Meinung nach geschehen, um diese Kinder zu unterstützen, insbesondere in den ersten Tagen?

Zunächst brauchen sie ein Gefühl der Gemeinschaft, ein Gefühl, dass sie hier in einem Dorf von Kindern sind. Ich denke, das wird ihnen sehr helfen. Außerdem werden wir nicht nur ein Kind aufnehmen, sondern eine Gruppe von Kindern, die die gleiche Erfahrung gemacht haben, nämlich den Verlust eines oder beider Elternteile. So können sie auch die Erfahrung machen: "Ich bin nicht allein. Es gibt andere Menschen, mit denen ich diese traumatische Erfahrung teile." Das wird für sie ein Gewinn sein. Außerdem werden wir als Team daran arbeiten, sie nicht zu reparieren oder alles zu ändern, sondern wir werden ihre Erfahrung validieren und ihnen verdeutlichen: "Es ist normal, sich so zu fühlen. Es ist normal, so zu reagieren." Das Erdbeben war ein sehr traumatisches, belastendes Ereignis. Deshalb werden wir sie zunächst an einem Ort willkommen heißen, der ihnen Sicherheit bietet. Emotionale Sicherheit ist ein Muss. Von dieser Sicherheit ausgehend machen wir uns dann ein Bild davon, welche Art von Intervention die Kinder am meisten brauchen und stellen einen Plan auf. Es wird kein Plan für ein oder zwei Monate sein, sondern für Jahre.

Auch für die SOS-Kinderdorf-Mütter, die diese Kinder in ihre Familien aufnehmen, wird dies eine sehr schwierige Situation sein. Wie werden Sie sie darauf vorbereiten?

Wir planen einen Workshop, in dem wir den Mitarbeiter:innen des SOS-Kinderdorfs Werkzeuge an die Hand geben, um mit der Situation umzugehen, wenn die Kinder kommen. Außerdem werden wir sie ganz nah begleiten und beraten, während die Kinder in den SOS-Kinderdorf-Familien sind.

Werden Sie sich auch um die SOS-Kinderdorf-Mütter kümmern, die den belastenden Geschichten der Kinder zuhören?

Ja, das ist eine meiner Aufgaben hier. Ich betreue die Kinder, aber ich betreue auch die Mütter in therapeutischen Sitzungen.

 

Das Interview führte SOS-Kinderdörfer-Mitarbeiterin Katharina Ebel, die während des Erdbebens gerade in Marokko Urlaub machte. Erfahren Sie mehr über ihre Erlebnisse nach dem Beben.

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