Wenn wir trauern, werden wir stärker

Die Kinder, die von den SOS-Kinderdörfern betreut werden, haben meist schlimme Verluste erlebt. Im Interview erklärt Dr. Teresa Ngigi, Psychologin bei den SOS-Kinderdörfern, wie wir die Kinder in ihrer Trauer begleiten – und wie sie davon auch viele Jahre später noch profitieren.

Teresa Ngigi hat viele trauernde Kinder psychologisch begleitet – und gibt ihr Wissen an SOS-Kinderdörfer-Mitarbeitende in der ganzen Welt weiter.

Frau Ngigi, was ist eigentlich Trauer und wie können wir diesem überwältigenden Gefühl begegnen?  

Wenn jemand trauert, hat er das Gefühl von Machtlosigkeit und Hilflosigkeit. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass Trauer keine Störung ist. Sie ist keine Krankheit. Trauer ist kein Zeichen von Schwäche, sondern eine emotionale, körperliche und geistige Notwendigkeit. Wir trauern, weil wir lieben. Und ich bin fest davon überzeugt, dass das einzige Heilmittel gegen Trauer die Trauer ist. 

Was geht in einem Kind vor, wenn es seine engste Bezugsperson, also ein oder sogar beide Elternteile, verliert? 

Wenn die Person, auf die ein Kind sich verlässt, um zu überleben, nicht mehr da ist, ist das für ein Kind, als ob die Welt aus den Fugen gerät. Das ist das Gefühl von: "Die Person, die für mich sorgen sollte, ist nicht da. Also ist mein Leben in Gefahr." Und wenn dann das Kind nicht wirklich dabei unterstützt wird zu heilen, dann kann es einen sogenannten dysfunktionalen Bewältigungsmechanismus entwickeln. Wir entwickeln Bewältigungsmechanismen, weil wir im Moment der Bedrohung am Leben bleiben wollen. Diese Bewältigungsmechanismen sind auf lange Sicht nicht unbedingt gesund für uns. Wenn man ein Trauma nicht geheilt oder den Prozess der Trauerbewältigung nicht durchlaufen hat, ist es wahrscheinlich, dass man diese Bewältigungsmechanismen auch dann anwendet, wenn es nicht notwendig ist. Alex Howard, ein britischer Psychotherapeut, spricht davon, dass die Mauern, die uns als Kinder geschützt haben, dieselben sind, die uns als Erwachsene gefangen halten. 

Welche Bewältigungsmechanismen beobachten Sie bei den Kindern, die wir betreuen? Und was können wir dagegen tun? 

Nehmen wir zum Beispiel einen sehr einfachen Bewältigungsmechanismus: Weglaufen, fliehen. Man kann emotional weglaufen. Man kann den Abstand wahren. Ich habe beobachtet, dass Kinder, die einen geliebten Menschen verloren haben, sehr unsicher werden, ob sie Erwachsenen vertrauen können. Sie denken: "Wenn ich dieser Person vertraue, könnte sie mich im Stich lassen.” Wenn ein Mensch mit einer solchen Mentalität aufwächst, wird es ihm auch als Erwachsener sehr schwerfallen, Menschen zu vertrauen und enge Beziehungen einzugehen, weil er Angst hat, verlassen zu werden. Und das passiert auch oft bei den Kindern, die wir in den SOS-Kinderdörfern betreuen: Viele dieser Kinder haben Probleme mit der Bindung. Die Tatsache, dass sie in unseren Programmen sind, bedeutet häufig, dass ihren primären Bezugspersonen etwas zugestoßen ist. Nun kommt also das Kind zu uns, es beginnt den Prozess der Bindung an die neue SOS-Kinderdorf-Mutter. Wir helfen ihnen, zu trauern und sich zu erholen. Nur so können sie ein starkes Fundament schaffen, damit sie selbst bei einer erneuten Trennung in ihrem Leben in der Lage sind, auf gesunde Weise damit umzugehen. Das ist unsere Verantwortung als Organisation. 

"Trauer ist kein Zeichen von Schwäche, sondern eine emotionale, körperliche und geistige Notwendigkeit."

Teresa Ngigi

In welchen Fällen kann es zu einem Trauma führen, wenn man einen Angehörigen oder eine Bezugsperson verliert?  

Lassen Sie uns ein Beispiel nehmen: Ich habe in Syrien gearbeitet und Sie können sich sicher vorstellen, dass die Erfahrung der Trauer dort wirklich sehr, sehr stark war. Viele der Kinder, die wir betreuen, haben im Krieg ihre Eltern verloren. Einige von ihnen haben sogar miterlebt, wie ihre Eltern starben. Neben dem Trauma des Krieges hatten sie mit der Tatsache zu kämpfen, dass ihre Eltern nicht mehr da waren, dass sie allein gelassen wurden. Trauer kann also auch an sich traumatisch sein. Wenn wir von einem Trauma sprechen, meinen wir damit, dass jemand das Gefühl hat, sein Wohlbefinden oder sogar sein Leben seien bedroht. Und wenn wir dann nicht gut begleitet werden, dann kann es passieren, dass uns der Kummer überwältigt. Wenn wir jedoch über starke Schutzfaktoren verfügen, können wir den Trauerprozess mit mehr Kraft bewältigen, anstatt das Gefühl zu haben, dass wir erdrückt werden.

Was ist das Wichtigste, das Kinder in so einer Situation nach einem schlimmen Verlust brauchen? 

Früher dachten die Menschen, wenn man Kindern ein Zuhause gibt, sie zur Schule schickt, ihnen Essen und Kleidung gibt, dann ist das ausreichend. Das ist gut, aber eben nicht das Einzige, was wichtig ist – besonders für Kinder, die ein Trauma erlebt haben. Menschen müssen sich sicher fühlen. Die Sicherheit wurde den Kindern genommen, als sie von ihren ersten Bezugspersonen getrennt wurden. Deshalb halte ich es für wichtig, dass wir als Organisation dafür sorgen, dass sich Kinder und Jugendliche in unseren Programmen sicher fühlen. 

Und wie können wir dieses sichere Umfeld schaffen?  

Natürlich ist es für uns als Organisation elementar wichtig, dass wir umfassende Vorkehrungen zum Kinderschutz treffen. Für mich fängt das schon bei den Betreuer:innen an, also den Menschen, die fast rund um die Uhr mit diesen Kindern und Jugendlichen zu tun haben: Werden sie dabei unterstützt, zuerst ihre eigenen Traumata zu heilen, damit sie die Kinder begleiten können, die manchmal ebenfalls viele unverarbeitete Traumata mitbringen? Sind wir sensibel genug, um gesunde Arbeitsbedingungen für die Betreuer:innen zu schaffen? Denn wenn man eine glückliche Betreuungsperson hat, hat man auch ein glückliches Kind. Und dann müssen wir in unseren Programmen die Kinder bei ihrer Heilung unterstützen – durch Kunst, Theater, Musik, Geschichtenerzählen und vieles anderes, damit sie ihrem Leben einen neuen Sinn geben können. Es ist für Kinder schwierig, Verluste zu verstehen, weil ihr Gehirn noch nicht so weit entwickelt ist, dass sie diese Dinge wirklich begreifen und verinnerlichen können. Gleichzeitig können Kinder Krisen meist schneller bewältigen als Erwachsene. Wenn Kinder in SOS-Kinderdörfern aufgenommen werden, sind sie sehr verzweifelt. Wenn sie dann spüren, dass sie akzeptiert und geliebt werden, gedeihen sie prächtig und sind viel anpassungsfähiger als wir Erwachsenen. 

"Können wir unsere Trauer in einem Umfeld leben, in dem jemand anderes für uns da ist, wird es leichter."

Teresa Ngigi

Was können wir in akuten Stresssituationen tun, wie nach einer Naturkatastrophe oder im Krieg, wenn die Verluste gerade noch ganz frisch sind?  

Ich erinnere mich an eine Schlammlawine in Sierra Leone, die sich 2017 ereignete. Ich war dort und viele Kinder blieben ohne Eltern zurück. Wir haben also zunächst sichergestellt, dass wir den Überlebenden psychologische Erste Hilfe anbieten, um der großen ersten Trauer zu begegnen. Dann haben wir sogenannte Nothilfe-Kitas eröffnet. Diese Nothilfe-Kitas sind gut organisiert, denn sie sollen Normalität in eine Ausnahmesituation bringen. Wenn wir nicht schnell genug sind, um den Kindern nach so einer Katastrophe zu helfen, kann das zu Schwierigkeiten in ihrem Leben führen – zu den fehlangepassten Bewältigungsstrategien, über die wir gerade sprachen.

Was sind die Auswirkungen auf die mentale Gesundheit, wenn Trauer gut begleitet und ausgelebt wird?  

Wenn wir trauern, werden wir stärker. Wir werden vor allem dadurch gestärkt, dass wir uns der Trauer stellen. Sie zu vermeiden, wird nicht helfen. Wenn wir uns allein, verlassen, isoliert und ausgegrenzt fühlen, dann wird die Trauer schwierig – egal ob wir Kinder, Jugendliche oder Erwachsene sind. Können wir unsere Trauer in einem Umfeld leben, in dem jemand anderes für uns da ist, wird es leichter. Wir müssen also in der Lage sein, andere in ihrer Trauer zu unterstützen und zu tragen. Und genau das ist es, was die SOS-Kinderdörfer tun. 

 

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