08. April 2009 | PRESSEMITTEILUNG

Tschernobyl-Jahrestag: "Wenn Wassilij überlebt, nehme ich Wowa auch mit!"

Dies ist die Geschichte einer starken Frau. Die Frau heißt Ludmilla Jermatschonok, ist mittleren Alters und kommt aus dem Dorf Glubokoje im Norden Weißrusslands. Ihr Sohn erkrankte an Leukämie, sie schlief bei ihm im Krankenhaus auf dem Boden, wochenlang. Und damit nicht genug: Nachdem der Zustand ihres Sohnes halbwegs stabil war, adoptierte sie den krebskranken Wowa.

Ludmilla Jermatschonok hat einen Mann und fünf Kinder. Von Beruf ist sie Tierärztin. Die Geschichte beginnt mit einem Ereignis, das die Familie bis ins Innerste erschüttert: Ihr Sohn Wassilij bekommt die Diagnose "Leukämie". "Für mich war es der absolute Schock, ich konnte meinem Sohn nicht helfen", erzählt die Mutter. Sie nimmt Wassilij und reist mit ihm nach Borovljany bei Minsk, wo es eine Fachklinik für Krebserkrankungen gibt. Wassilij bekommt eine Chemotherapie. Die Mutter möchte bei ihm sein, für ihn da sein. Im Krankenhaus schläft sie auf Holzbänken, manchmal auf dem Fußboden. Wassilij geht es nicht gut, die Therapie ist hart.

Dann erfährt die Mutter von einem SOS-Kinderdorf neben der Klinik, und dass es dort ein Sozialzentrum für Familien mit Kindern gibt, die zur Chemotherapie ins Krankenhaus müssen. Vier Häuser sind das, mit mehreren Wohnungen. Ludmilla Jermatschonok wird mit Wassilij aufgenommen. Der erste Aufenthalt dauert ein halbes Jahr, so lange wie Wassilij behandelt wird. Vorbei die Nächte auf dem Fußboden im Krankenhaus. "Hier im SOS-Sozialzentrum haben wir ein Zimmer mit Küche und Bad. Und es gibt auch ein Spielzimmer. Die Kinder sind schwer krank, werden schnell müde und haben Schmerzen. Hier finden sie den geschützten Raum, den sie brauchen, um mit den Strapazen der Chemotherapie fertig zu werden." Wenn es ihrem Sohn besonders schlecht geht, nimmt sie ihn auf den Arm und trägt ihn ins Krankenhaus hinüber.

Mutter und Sohn leben ein weiteres halbes Jahr und dann noch drei mal drei Monate im SOS-Sozialzentrum. Im Krankenhaus ist es schon ein Ritual, das Wassilij geduldig über sich ergehen lässt: Er bekommt eine Infusion und darf anschließend auf einem Bett liegen und zuschauen, wie die Infusion tröpfelt. Er wird matt, es tut weh, ihm wird schlecht - die bunten Clowns an der Wand können ihn nicht wirklich aufheitern. Aber er erträgt es. Seine Mutter versucht, Wassilij Zuversicht zu schenken. Sie leidet innerlich.

Bei einem dieser Aufenthalte, es ist der Dezember 2005, wird Ludmilla auf den kleinen Wladimir aufmerksam – "Wowa", wie sie ihn zärtlich nennt. Wowa liegt auf der gleichen Intensivstation wie Wassilij. Arzt und Krankenschwester kümmern sich, wie man sich im Krankenhaus eben kümmert. Aber es ist keiner da, der Wowa Zeit schenkt, der seine Hand nimmt und mit ihm spricht. Wowa leidet stumm, nur wenn er Hunger hat, weint er. Ludmilla Jermatschonok erfährt: Wowa hat niemanden mehr. Seine Diagnose: Leberkrebs. Zu dieser Zeit geht es auch Wassilij besonders schlecht. Seine Mutter sucht Trost im Gebet. Ihre Kräfte und vor allem die ihres Sohnes scheinen zu Ende zu gehen. Da sagt die Mutter beschwörend: "Wenn mein Wassilij hier lebend rauskommt, nehme ich Wowa auch mit und werde für ihn da sein. Wir werden ihn großziehen wie unsere eigenen Kinder. Er wird bei uns sein und das Gleiche essen wie wir."

Wasillji überlebt. "Wir wurden eines Tages aus dem Krankenhaus entlassen und haben Wowa mitgenommen." Wowa trägt eine riesige Narbe quer über dem Bauch, weite Teile der Leber wurden ihm entfernt. Als Ludmilla Jermatschonok die Papiere für Wowas Adoption zusammensucht, erfährt sie seine Geschichte: "Seine Mutter hat ihn buchstäblich zum Fenster rausgeworfen, als er drei Monate alt war. Ein Nachbar, der früh um sechs zur Arbeit ging, fand den Jungen im Schnee." Halb erfroren kommt Wowa ins Krankenhaus, später ins Waisenhaus und dann wieder ins Krankenhaus mit dem Tumor in der Leber.

Ihre Familie unterstützt Ludmilla, ihr Mann hat gesagt: "Wenn es für dich wichtig ist, dann machen wir das." Nicht jeder in ihrem Dorf hat so viel Verständnis. "Für ein gesundes Kind trägt man große Verantwortung – für ein krankes umso mehr. Mein Leben wird auch in Zukunft aus Fahrerei und Krankenhäusern bestehen. Ich sehe es vielen Leuten an, dass sie mich nicht verstehen", erzählt Ludmilla Jermatschonok. Die Menschen gehen auf Distanz – vielleicht weil sie soviel Krankheit und Leid nicht aushalten.

Ludmilla Jermatschonok stellt sich der Situation. "Ich habe verstanden, dass ich nicht so viel im Leben brauche wie früher. Ich habe angefangen, andere Werte im Leben zu schätzen", sagt sie. Und in Bezug auf Wowa: "Es ging uns sehr schlecht, aber wir sind drüber hinweg. Also ist es kein Problem, einem Kind auf die Beine zu helfen. Wir kriegen das hin."

Wenn Ludmilla Jermatschonok ihre Geschichte erzählt, lässt sie immer wieder Worte der Dankbarkeit einfließen: für die Menschen, die Medikamente geschickt haben, die Ärzte und Schwestern und die Leute im SOS-Sozialzentrum, die der Familie zu essen und vor allem einen Raum gegeben haben, in dem sie trotz aller Strapazen immer wieder neu zusammenfinden können. "Wenn es all diese Menschen nicht gäbe, dann gäbe es uns auch schon lange nicht mehr", sagt Ludmilla.

Gewiss, viele Menschen haben die Hände gereicht, aber Ludmilla selbst ist diesen Weg gegangen und sie geht ihn weiter. Manchmal, wenn sie erzählt, schimmern Sorgen in ihren Augen. Aber die Kraft ihrer Stimme ist jedes Mal ein bisschen stärker als das Schimmern in den Augen.

Das ist die Geschichte von Ludmilla Jermatschonok, erzählt am Küchentisch im SOS-Sozialzentrum, wo sie wieder einmal mit ihren Kindern wohnt. Wassilij muss erneut behandelt werden. Mit dabei sind der kleine Wowa, außerdem die Töchter Anja und Dascha.

Wowa ist heute vier Jahre alt und Wasilij sechs. Wenn Wassilij in zwei Stunden die Infusion bekommt, wird er matt auf der Pritsche im Krankenhaus liegen. Und Ludmilla wird ihm die Hand halten. Wie die Geschichte enden wird, weiß niemand. Aber immerhin: Der Zustand der Kinder ist im Moment stabil. "Wir leben – und das ist schon mal gut!"

Wolfgang Kehl

SOS-Kinderdörfer in Weißrussland

Die Arbeit der SOS-Kinderdörfer in Weißrussland begann nach der Tschernobyl-Katastrophe. Heute gibt es dort 2 SOS-Kinderdörfer (ein drittes ist in Bau), eine Jugendeinrichtung und verschiedene Programme der SOS-Familienhilfe. Eine Besonderheit ist das SOS-Sozialzentrum, das zum einen Familien wie die von Ludmilla Jermatschonok aufnimmt, zum anderen kinderreichen Familien, die z.B. unter den Spätfolgen der Reaktorkatastrophe leiden, Erholungsaufenthalte anbietet.

SOS-Kinderdörfer weltweit, Kommunikation, kommunikation@sos-kinderdoerfer.de, 089/17914-262

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