Ana Mercedes arbeitet seit 19 Jahren als Mutter im SOS-Kinderdorf im kolumbianischen Ipiales. Mit Liebe, Lachen und Lebenserfahrung hat sie bereits 48 traumatisierte Kinder zu lebenstüchtigen Erwachsenen erzogen.
Ana Mercedes Suárez Rosero hat 48 Kinder. Ihre älteste Tochter ist 37, ihr jüngster Sohn fünf Jahre alt. Ana Mercedes hat all ihre 25 Töchter und 23 Söhne gleich lieb und wünscht sich noch mehr Kinder. Ein Baby zur Welt gebracht hat die 54-Jährige allerdings nie. Sie ist Mutter im SOS-Kinderdorf im kolumbianischen Ipiales.
"Natürlich muss ich meine Liebe auf mehr Kinder verteilen als andere Mütter. Aber ich trage unendlich viel Liebe in mir. Ich habe keine Angst, dass mir die Liebe eines Tages ausgehen könnte", erzählt Ana Mercedes Suárez Rosero und fängt an zu lachen. Es ist dieses ansteckende Lachen, das im Kinderdorf im kolumbianischen Hochland auf fast 3000 Meter schon fast 50 Kinder davon überzeugt hat, nie die Hoffnung aufzugeben, dass das Leben wieder gut werden kann und dass sie nicht allein sind.
An einem Donnerstagvormittag sitzt Ana Mercedes Suárez Rosero im penibel aufgeräumten roten Backsteinhäuschen, das sie mit sieben Kindern im SOS-Kinderdorf bewohnt. Weil es in der ganzen Stadt Probleme mit der Wasserversorgung gibt, fällt die Schule heute aus. Ihre vier Töchter und drei Söhne freuen sich über den freien Tag, spielen friedlich auf dem Spielplatz und der Wiese des Kinderdorfes oder malen und lesen im Wohnzimmer und in ihren Zimmern. Ana Mercedes hat Zeit zu erzählen.
"Ich wurde geboren, um SOS-Kinderdorf-Mutter zu sein"
Sie erzählt, wie der Tod ihres Vaters, die damals 35-Jährige vor 19 Jahren in eine tiefe Krise stürzte und sie alles in Frage stellen ließ – unter anderem die Sinnhaftigkeit ihres Jobs als Leiterin einer Supermarkt-Filiale. In dieser schweren Zeit lernte sie das SOS-Kinderdorf in Ipiales kennen, und die Freude kehrte in ihr Leben zurück. "Allerdings dachte ich zunächst, dass ich den Job gar nicht machen könne, weil ich nie ein eigenes Kind zur Welt gebracht habe. Aber auch ohne je schwanger gewesen zu sein, habe ich hier gelernt, eine Mutter, ein Familienoberhaupt und auch eine Autorität zu sein. Mittlerweile bin ich überzeugt: Ich wurde geboren, um Mutter in einem SOS-Kinderdorf zu sein. Ich liebe all meine Kinder, als seien es meine leiblichen Kinder", berichtet die 48-fache Mutter, die Kraft und Halt im Gebet findet, ihren Kindern ihren Glauben jedoch niemals aufdrängt.
Fürsorgliche Unterstützung: Ana Mercedes bei den Hausaufgaben. Foto: Jakob Fuhr
Seit fast 20 Jahren wohnt sie in einem der fünf Häuser des Kinderdorfes. Hier hat sie hat Kindern das Fläschchen gegeben und sie gefüttert, mit ihnen gelacht und geweint, sie ins Bett gebracht und sie geweckt, mit ihnen Hausarbeiten gemacht und gespielt, sie in den Arm genommen und mit ihnen geschimpft, mit ihnen gekocht und gegessen, ihnen vorgelesen und mit ihnen gebetet, sich ihre Sorgen angehört und mit ihnen nach Lösungen gesucht, mit ihnen getobt und aufgeräumt, sie als Mutter in ihrer Familie willkommen geheißen und sie nach einigen Jahren, wenn sie in eine betreute Jugend-WG oder zurück zu ihren leiblichen Familien zogen, mit Stolz aber auch einem dicken Kloß im Hals wieder ziehen lassen.
"Viele Kinder, die ich großgezogen habe, haben Schlimmes durchgemacht, bevor sie zu mir gekommen sind. Viele von ihnen waren deshalb nicht einfach. Aber ich kann mit Stolz sagen, dass ich bei keinem Kind versagt habe. Ich konnte allen helfen, die richtigen Entscheidungen für ihr Leben zu treffen. Aus allen sind gute Menschen geworden, die ihr jetzt Leben im Griff haben", sagt Ana Mercedes Suárez Rosero, die mit den meisten ihrer Kinder in regelmäßigem Kontakt steht. Besonders froh ist sie, dass einer ihrer Söhne mittlerweile selbst als Sozialpädagoge in einem SOS-Kinderdorf in Kolumbien arbeitet.
Auch mal Streit – wie in jeder Familie
Solidarität, Ehrlichkeit, Respekt, Resilienz und die Fähigkeit, eines Tages selbst eine gute Mutter oder ein guter Vater zu sein, sind die Werte, zu denen Ana Mercedes ihre Kinder erziehen möchte. "Die Werte sind immer dieselben, aber der Weg dahin ist bei jedem Kind anders. Denn all meine Kinder kamen mit anderen Problemen zu mir. Es gibt kein Patentrezept, wie man aus traumatisierten Kindern glückliche Erwachsene macht", sagt Ana Mercedes und spricht dabei aus langjähriger Erfahrung.
Die meisten ihrer Kinder kamen zu ihr, weil die nationale Behörde für Familienwohlfahrt sie im SOS-Kinderdorf unterbringen ließ. Sie hatten in ihren Familien Gewalt erlebt oder waren von Zuhause weggelaufen. Bei anderen waren die Eltern gestorben oder nicht in der Lage, sich um sie zu kümmern. José (Name geändert), Ana Mercedes jüngstes Kind, hingegen hat nie ein anderes Zuhause als das SOS-Kinderdorf gekannt. Seine Mutter war schwanger, als sie mit 14 Jahren selbst ins SOS-Kinderdorf Ipiales kam. Mittlerweile ist sie ausgezogen, besucht ihren Sohn jedoch regelmäßig.
Liebevolles Füreinander: Ana Mercedes und ihre Tochter in der Küche. Foto: Jakob Fuhr
Andere Kinder haben zuvor bittere Erfahrungen in staatlichen Waisenheimen gemacht. "Ein Waisenhaus ist eine Institution. Im SOS-Kinderdorf lebt man in einer Familie", so Ana Mercedes Suárez Rosero. Und selbst in den besten Familien gibt es Streit. Viele der Kinder, die die erfahrene SOS-Kinderdorf-Mutter großgezogen hat, haben in ihren biologischen Familien, auf der Flucht oder auf der Straße schlimme Gewalterfahrungen gemacht. Das Leben hat sie mit großer Härte gelehrt, allem und jeden zu misstrauen, sich nur auf sich selbst zu verlassen, oft haben sie versucht, Konflikte mit Gewalt zu lösen. Nicht gerade ideale Voraussetzungen für ein harmonisches Familienleben. Und so wird es auch im Haus 1 des SOS-Kinderdorfes immer mal wieder laut.
Eigene Mutter als Vorbild
"Auch wenn sie meistens nicht miteinander verwandt sind, sind meine Kinder wie echte Geschwister. Sie lieben sich und stehen füreinander ein, aber natürlich streiten sie sich auch", berichtet die kleingewachsene Ana Mercedes. Es ist auch schon vorgekommen, dass eines ihrer Kinder auf sie losgegangen ist. "Wie alle Eltern, bin auch ich manchmal wütend auf meine Kinder, aber meistens machen sie mich sehr stolz. Vor allem, wenn es ihnen gelingt, ihre Probleme aus eigener Kraft zu lösen", erzählt Suárez Rosero.
Dass es ihren Kindern immer besser gelingt, Herausforderungen zu meistern und gut mit erlittenen Traumata zu leben – dazu trägt die geduldige Frau viel bei. "Ich glaube, ich habe es von meiner eigenen Mama gelernt, eine gute Mutter zu sein. Sie war liebevoll, hatte aber auch klare Prinzipien und konnte streng sein, wenn es sein musste. So bin ich auch", sagt die unverheiratete Frau, die die im Haus und in der Familie geltenden Regeln zusammen mit ihren Kindern aufgestellt hat. In ihrer Arbeit sieht sie auch viele Vorteile für sich selbst. "Das Kinderdorf hält mich jung. Durch meinen Job weiß ich als 54 Jahre alte Frau, wie die jungen Leute heute ticken und welche Musik sie mögen. Auch wenn ich die Musik meiner Kinder meist furchtbar finde. Aber sie stehen auch nicht auf meine Kirchenlieder", sagt Ana Mercedes Suárez Rosero und muss wieder lachen.
"Du warst für mich die Mutter, die ich zuvor nicht hatte", war das schönste Kompliment, das eine ihrer Töchter ihr vor vielen Jahren machte. Ana Mercedes hat sich darüber sehr gefreut, doch sie macht ihre Arbeit nicht, um gelobt zu werden. Und sie macht sie auch für sich. "Das SOS-Kinderdorf ist das Beste, was mir je passiert ist. Für mich ist es kein Job, Kindern, denen das Leben übel mitgespielt hat, eine gute Mutter zu sein. Es macht mich einfach glücklich, traumatisierte Jungs und Mädchen und zerrüttete Familien zu heilen. Die Arbeit im SOS-Kinderdorf hat mich zu einem glücklicheren und besseren Menschen gemacht."