Mit 19 Jahren wurde Rosa Idalia SOS-Mutter im Kinderdorf Estelí, Nicaragua. Seitdem hat sie 22 SOS-Kinder großgezogen. Ihr ältestes Kind ist nun 30 Jahre alt.
Sicher haben Sie viele Dinge hier erlebt. Was ist Ihnen noch ganz besonders in Erinnerung?
Das Schönste für mich war, als zum ersten Mal zwei kleine Jungs in meine Familie kamen, es waren Brüder. Sie waren noch ganz klein und sahen aus wie Zwillinge, sie waren fast gleich alt. Sie kamen nackt hier an. Ich saß dann die erste Nacht an der Nähmaschine und habe ihnen Kleider genäht, damit sie etwas anzuziehen hatten.
Bekommen die SOS-Mütter genug Unterstützung und Anerkennung für ihre Arbeit? Die Anerkennung kriege ich vor allem von den Kindern. Ich gebe ihnen Liebe und kriege Liebe zurück. Im Ruhestand würde ich mir wünschen, dass ich in der Nähe des SOS-Kinderdorfs bleiben kann. Ich hätte gern ein kleines Häuschen nicht weit weg, damit ich in Kontakt mit meinen Kindern bleiben kann.
Haben Sie noch Kontakt zu den Kindern, die bei Ihnen aufgewachsen sind? Ja, ich habe ein gutes Verhältnis zu ihnen. Zum Beispiel ist meine Mutter vor zwei Wochen gestorben. Die Kinder sind alle zur Beerdigung gekommen, auch die großen, die schon 30 Jahre alt sind, verheiratet sind und die in Managua leben - die haben einfach ihre Frauen mitgebracht. Sie mochten meine Mutter und haben sie früher oft besucht. Das ist doch das Schönste, das ein Mensch sich vorstellen kann.
Was ist das Schwierigste an diesem Beruf?
Am Schwierigsten ist es zunächst, die Kinder als deine Kinder anzunehmen. Die meisten Frauen betrachten es am Anfang als Job, dann werden die Kinder immer mehr zu den eigenen. Dieser Übergang ist allerdings auch am Schwierigsten. Und später, wenn die Kinder dann groß sind, ist es wieder nicht leicht, sie loszulassen.
Dachten Sie jemals daran, dass es schön wäre, einen Mann an Ihrer Seite zu haben?
Einen Mann? Nein.
Auch nicht für die Kinder? Zum Beispiel als Vorbild oder Identifikationsfigur für Ihre Söhne?
Klar ist es gut, Vater UND Mutter zu haben. Aber das ist einfach ein anderes Modell als das der SOS-Kinderdörfer. Klar brauchen die Kinder eine Identifikationsfigur. Doch ich hatte das Gefühl, den fehlenden Vater ersetzen zu können.
Haben Ihre Kinder Kontakt zu ihren leiblichen Eltern? Ja, bis auf zwei, die keine Eltern mehr haben.
Ist das schwer für Sie? Akzeptieren Sie die Eltern der Kinder?
Oh ja, ich fühle mich sogar unterstützt durch sie. Zum Beispiel habe ich eine Geschwistergruppe mit fünf Kindern bei mir, die ihre leiblichen Eltern zum ersten Mal nach sechs Jahren im Kinderdorf wieder gesehen haben. Als wir zu Besuch kamen, hat die Familie ein großes Fest gemacht. Sie sind mir sehr dankbar. Oder wenn der Großvater einer meiner Söhne zu Besuch kommt, ist er nicht glücklich, wenn er mich nicht antrifft. Er denkt, ich sei die einzige Mutter, die gut auf seinen Enkel aufpassen kann.
Ich habe ein gutes Verhältnis zur Herkunftsfamilie meiner Kinder: Ich mag sie. Aber ich glaube nicht, dass sie meinen Platz einnehmen könnten. Ich gebe den Kindern Liebe und sie lieben mich. Ich denke auch, wenn mir etwas passiert oder ich krank werde, haben die Kinder noch jemanden.
Was gefällt Ihnen ganz besonders gerade an diesem Kinderdorf?
Auch wenn andere SOS-Kinderdörfer moderner sind, mag ich die Atmosphäre im SOS-Kinderdorf in Estelí ganz besonders. Es besteht ein starker Zusammenhalt zwischen den Frauen. Jede SOS-Mutter, die neu kommt, wird von den anderen akzeptiert und unterstützt.
Warum glauben Sie, ist es manchmal schwer, neue Frauen zu finden, die als SOS-Mütter arbeiten möchten? Und was könnte man daran ändern? Vielleicht scheuen sich viele Frauen vor der Verantwortung. Sie wollen nicht nur eine gute Ausbildung, sondern auch einen Mann und ein freies Wochenende. Frauen, die als Bewerberinnen hier ins Dorf kommen, fragen oft danach. Dann entscheiden sie sich, den Job nicht anzutreten.
Haben Sie einen Rat, den Sie allen Frauen geben möchten, die noch neu sind als SOS-Mutter? Ich rate ihnen: Mach genau das, was du mit einer eigenen Familie machen würdest. Unsere Aufgabe ist es, neue SOS-Mütter zu unterstützen, damit sie lernen, diese Aufgabe zu lieben. Wenn eine neue SOS-Mutter kommt und nicht kochen kann, dann zeige ich ihr alles. Aber das eigentlich Entscheidende, nämlich die innere Einstellung zu der Tätigkeit als SOS-Mutter, die kann man niemandem beibringen. Die muss man selbst mitbringen. Liebe ist eine wichtige Zutat. Wir müssen die Kinder akzeptieren so wie wir uns untereinander akzeptieren müssen. Das ist eine Lebensphilosophie.
Interview: Silja Streeck