Artem zeigt ein selbstgebasteltes Poster

Der Krieg macht jeden verwundbar

Psychologische Hilfe in der Ukraine: Artems Weg zurück ins Leben

Für den neunjährigen Artem ist das Büro der Psychologin Lyudmila "wie zu Hause", weil "man hier Tee trinken kann" und weil "Lyudmila für alles eine Lösung finden kann". Seine Geschichte verdeutlicht, wie wichtig psychologische Hilfe für Kinder und Familien in der Ukraine ist. Ein Bericht aus dem Familienstärkungsprogramm des SOS-Kinderdorfs in Brovary, Region Kyjiw.

Alles weg 

Bei Ausbruch des Ukraine-Krieges mussten Artem, seine Eltern und seine beiden älteren Geschwister ihr Haus im Bezirk Brovary dringend verlassen. Als sie zurückkehrten, war nichts mehr wie zuvor. "Unser Zuhause wurde am 23. März 2022 zerstört", sagt Iulia, die Mutter von Artem. "Die Nachbarn haben es uns erzählt." 

"Es war schmerzhaft für die Kinder. Alles, was sie besaßen, ihr ganzes Hab und Gut, ihr Spielzeug, ihre Kuschelecken wurden ausgelöscht."

Iulia, Mutter von ARTEM

"Auch mein Mann war am Boden zerstört. Der Großteil des Hauses war sein Werk. Das Einzige, was uns blieb, waren unsere Ausweispapiere." Offiziell als Binnenvertriebene eingestuft, mietete die Familie ein Haus in ihrem Heimatdorf. "Ich glaube, zwei Wochen lang haben wir keine Reaktion gezeigt. Wir waren einfach alle wie erstarrt", erinnert sich Iulia. "Eines Tages sagte meine Tochter, die damals 13 Jahre alt war: 'Lasst uns anfangen, die Ziegel zu entfernen.' Wir alle nickten, immer noch erstarrt, als Zeichen, dass wir etwas tun und mit der Heilung beginnen sollten." 

Was ist Krieg? 

Die Arbeiten am Haus gingen nur langsam voran und dauern mit gelegentlicher Unterstützung durch Wiederaufbauprogramme noch immer an. In der Zwischenzeit lenkten sich Artem und seine Geschwister damit ab, Kohl und Blumen um einen ausgebrannten russischen Militärpanzer zu pflanzen, der während ihrer Abwesenheit von der ukrainischen Armee getroffen wurde. Sie strichen die abnehmbaren Teile des Panzers in blau und gelb.

Ein Nachbar postete das Projekt der Kinder in den sozialen Medien und es wurde schnell zu einer Mediensensation. "Viele Journalisten kamen", erklärt Iulia. "Einer wollte Artem für eine Dokumentation interviewen."

"Als der Journalist ihn fragte 'Was ist Krieg?', brach Artem in Tränen aus. In diesem Moment wusste ich, dass wir das Trauma nicht allein bewältigen können." 

Iulia, Mutter von ARTEM

Durch Nachbar:innen erfuhr Iulia vom Familienstärkungsprogramm der SOS-Kinderdörfer in der Ukraine und traf sich mit einer Sozialarbeiterin. Schon bald erhielt die Familie Hilfe. 

Einen Weg finden 

Artem und seine Schwester nahmen an verschiedenen Gruppenaktivitäten für Kinder teil, darunter Kunsttherapie und Nachhilfeunterricht. "Mein Ältester sagt, dass er im Moment keine Hilfe braucht, aber wir halten die Tür offen", sagt Iulia. Sie selbst hat sich den Elterngruppen zur Selbsthilfe und psychologischen Beratung angeschlossen, während ihr Ehemann neben der Arbeit und dem Wiederaufbau des Hauses noch keine Zeit dafür gefunden hat. 

"Alles, was wir von den SOS-Kinderdörfern bekommen, ist für uns nützlich", sagt die Mutter. "Von den Medikamenten gegen die saisonale Grippe bis hin zur Nachhilfe und Beratung – vor allem die psychologische Unterstützung." Die Nachhilfe half Artem und seiner Schwester, die Bildungslücken zu schließen, die durch die Pandemie und den Krieg entstanden sind. 

Durch die psychologische Unterstützung konnte Artem wieder lächeln. "Der Krieg hat sein emotionales Wohlbefinden wirklich beeinträchtigt. Er zog sich in sich selbst zurück und wurde von seinen Mitschüler:innen stigmatisiert, weil er alles verloren hatte. Das war sehr schmerzhaft für ihn", sagt Iulia. "Aber Lyudmila hat einen Weg gefunden!" 

Lyudmila bei ihrer Arbeit im Familienstärkungsprogramm der SOS-Kinderdörfer Ukraine in Brovary. Foto: Katerina Ilievska

Einsatz für jedes Kind 

Lyudmila ist Psychologin und Kindertherapeutin und arbeitet seit Dezember 2023 im Familienstärkungsprogramm der SOS-Kinderdörfer in Brovary. Für Artem und viele andere Kinder im Programm ist Lyudmila eine Vertrauensperson. Sie erklärt: "Ich liebe meinen Job. Jedes Kind ist für mich wichtig."

Lyudmila betont, dass das Alter eine wichtige Rolle bei der Traumabewältigung der Kinder spielt. "Für kleinere Kinder ist es einfacher, wenn die Familie umziehen muss. Für sie ist das Zuhause dort, wo die Eltern sind. Für Vorschulkinder und Teenager ist es komplizierter, da sie nicht nur ihr Zuhause, sondern auch ihr soziales Umfeld und wichtige Dinge, die ihre Persönlichkeit ausmachen, verloren haben." 

Ein sicherer Raum 

"Alles beginnt mit dem sicheren Raum", erklärt Lyudmila. "Sobald sich die Kinder sicher und wohl fühlen, versuche ich mit verschiedenen Methoden herauszufinden, welche Unterstützung sie brauchen und wie ich ihnen helfen kann."

"Ich mache einen großen Teil der therapeutischen Arbeit hier in der Praxis, aber noch mehr muss zu Hause getan werden", sagt Lyudmila. "Ich informiere die Eltern über die Fortschritte und gebe ihnen Ratschläge, was sie tun und wie sie sich zu Hause verhalten sollen. Zu Hause kann viel erreicht werden, weil die Kinder in ihrer gewohnten Umgebung am entspanntesten sind." 

Auf dem Weg der Besserung 

Artems größte Veränderung trat ein, als er individuelle psychologische Beratung von Lyudmila erhielt. "Sie hat einen Weg gefunden, die schwierigen Themen zu erklären", sagt Iulia. "Wenn ich vorher mit ihm sprach, haben wir beide nur geweint." Nach jeder Sitzung verbesserte sich sein emotionaler Zustand etwas und in weniger als einem Jahr begann er sogar, die Schule wieder zu mögen.  

Artem spricht heute offen mit seiner Mutter und Lyudmila über seine Gefühle und sagt oft: "Mama, ich brauche Lyudmila jetzt." Nach den Sitzungen erzählt er seiner Mutter, wie es gelaufen ist. Meistens ist es derselbe Satz: 'Lyudmila hat mir heute sehr geholfen.'" 

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