19. August 2022 | NEWS

Alltag in Polen, Gedanken in der Ukraine

Yevgeniya Rzayeva gibt geflüchteten ukrainischen Kindern in einem fremden Land ein Stück Normalität zurück

Yevgeniya Rzayeva arbeitet für die SOS-Kinderdörfer in der Ukraine. Foto: Annette Leopold

Yevgeniya Rzayeva hatte nie vor, ihre Heimat Kiew zu verlassen. Doch der Krieg in der Ukraine zwang die 40-Jährige Anfang des Jahres zu diesem Schritt. Gemeinsam mit Sohn Sascha (13) und Mutter Yuliya lebt Yevgeniya heute im knapp 800 Kilometer entfernten Warschau. Mit viel Engagement und Herz baut die Mitarbeiterin der SOS-Kinderdörfer in unbekannter Umgebung für ihre ukrainischen Schützlinge bekannte Strukturen wieder auf.  

Yevgeniya erinnert sich noch genau an diese eine Nacht Ende Februar 2022. Wie schon so oft in den Tagen zuvor hatte sie sich zum Schutz vor russischen Angriffen mit Sohn Sascha* und Mutter Yuliya* in einem Luftschutzbunker in Kiew versteckt. Doch dieses Mal mischte sich zu der Kälte, der Dunkelheit und der Ungewissheit auch eine unbeirrbare Klarheit. "In diesem Moment", sagt Yevgeniya, als wir fünf Monate später mit ihr sprechen, "habe ich für meinen Sohn die Entscheidung getroffen, unsere Heimat zu verlassen." 

Yevgeniyas Sohn Sascha* ist 13 Jahre alt. Foto: Annette Leopold

Über Lwiw im Westen der Ukraine überqueren Yevgeniya, Yuliya und Sascha die polnisch-ukrainische Grenze und gelangen schließlich nach Warschau. Über die SOS-Kinderdörfer in Polen findet die Familie eine Bleibe, und wie viele weitere ukrainische Geflüchtete nach und nach wieder in einen Alltag.  

Als Projektmanagerin und Nothelferin der SOS-Kinderdörfer kümmert sich Yevgeniya um die adäquate pädagogische, medizinische und psychologische Versorgung ihrer Schützlinge. "Schon vor dem Krieg hatten einige unserer Kinder gesundheitliche und teilweise psychische Probleme und waren auf spezielle Medikamente angewiesen", erzählt Yevgeniya. Mit Ausbruch des Krieges mussten psychotherapeutische Behandlungen dann oft abrupt abgebrochen werden.

"Ich wünsche mir, dass Menschen aufhören, einander zu töten und dass wir bald nach Kiew zurückkehren und dort in Frieden leben können."

YEVGENIYA RZAYEVA

In den vergangenen Monaten ließ sie daher mit Hilfe der polnischen Kolleg:innen ärztliche Dokumente der Kinder übersetzen und nach geeigneten Psycholog:innen und Psychotherapeut:innen suchen. "Wir mussten sicherstellen, dass alle Kinder trotz der sprachlichen Barriere entsprechend ihrer Bedürfnisse auch in Polen bestmöglich unterstützt werden können." Zusammen mit ihrem Team organisiert Yevgeniya außerdem polnische Sprachkurse und den Wiedereinstieg der Kinder und Jugendlichen nach den Sommerferien in die Schulen.  

Yevgeniyas Sohn Sascha* malte in der Heimat viel – und richtig gut. Foto: Yevgeniya Rzayeva

Dabei pendelt sie täglich zwischen ihrer beruflichen Rolle und der mindestens genauso fordernden Rolle als Mutter. Denn auch ihre eigene, ganz persönliche Geschichte ist eine mit ungewissem Ausgang. Saschas Vater befindet sich noch immer in der Ukraine, im besetzten Mariupol. Dreieinhalb Monate hatten sie keinen Kontakt, wussten nicht, ob er lebt. Kürzlich konnten sie erstmals mit ihm telefonieren.

"Ich wünsche mir, dass Menschen aufhören, einander zu töten und dass wir bald nach Kiew zurückkehren und dort in Frieden leben können", sagt Yevgeniya.  

Trotz dieser Umstände hat sie ihre grundsätzlich positive Einstellung zum Leben nicht verloren. Als wir Yevgeniya treffen, verbringt sie mit ihren ukrainischen Kolleg:innen der SOS-Kinderdörfer gerade einen dreiwöchigen Urlaub im Feriencamp der SOS-Kinderdörfer im italienischen Caldonazzo.

"Das Leben ist wundervoll, es gibt einem so viele Möglichkeiten, die man nur nutzen muss", sagt sie. "Wir werden uns noch sehr lange an diesen speziellen Ort zurückerinnern und wir sind sehr dankbar dafür, dass wir uns haben." 

*Namen geändert

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