Vertraue niemandem", wurde Hesmat vor Beginn seiner Reise immer wieder eingebläut. Nach der Machtübernahme der Taliban nahm der damals 11-Jährige eine Odyssee auf sich und flüchtete alleine von Afghanistan bis ins SOS-Kinderdorf nach Österreich. Hesmats bewegendes Schicksal hat der Journalist Wolfgang Böhmer in einem Jugendbuch (Titel: "Hesmats Flucht") festgehalten.
Von Arne Semsrott – Quelle: SPIEGEL ONLINE
Hesmat wird nervös. Langsam reiben seine Handflächen aneinander, sein Blick schweift im Raum umher. Dieser Abend wird aufregend für ihn. "Bei der letzten Lesung musste ich mich richtig zusammenreißen, um nicht zu weinen", sagt er. "Wenn Wolfgang aus meinem Buch vorliest, explodiert es in mir."
Heute ist der inzwischen 19-Jährige in einer besonderen Situation: Er kehrt in das Jugendwohnheim der SOS-Kinderdörfer in der Nähe von Innsbruck zurück, in dem er 2001 nach seiner Flucht aus Afghanistan endlich Menschen gefunden hatte, denen er vertrauen konnte. Damals, nachdem die Taliban in Kabul die Macht übernommen hatten, Hesmats Mutter gestorben und sein Vater durch Gefolgsmänner der Taliban umgebracht worden war, entschloss er sich, gerade einmal elf Jahre alt, zur Flucht.
London hieß Hesmats Ziel. Über Tadschikistan und Kasachstan gelangte er nach Moskau. Von dort aus führte ihn seine Odyssee weiter über die Ukraine und Ungarn bis nach Österreich, wo er an der Grenze zu Italien von den Behörden aufgegriffen und schließlich in ein SOS-Kinderdorf gebracht wurde. Auf seiner Reise wurde Hesmat von Menschenschmugglern betrogen, in Gefängnisse gesteckt und in Flüchtlingslager. Er musste mit ansehen, wie sein bester Freund auf einer Zugfahrt in seinem Versteck starb und von den Fahrgästen aus dem fahrenden Waggon geworfen wurde. Über 5000 Kilometer legte Hesmat in mehr als einem Jahr zurück.
Strapazen, Schläge, Erniedrigungen
War es das alles wert? "Ich bereue meine Entscheidung nicht", sagt Hesmat heute. "Ohne meine Eltern hatte ich nichts mehr zu verlieren. Außerdem dachte ich, im Westen würde immer die Sonne scheinen, und die Blumen würden blühen."
Jetzt sitzt er in Telfs im SOS-Jugendwohnheim und draußen nieselt es. Die Besucher der Lesung reiben sich beim Betreten des Raum die kalten Hände, nehmen Mützen und Schals ab. Herzlich wird Hesmat in seinem ehemaligen Zuhause begrüßt. Eine kleine Band spielt "Imagine" von John Lennon, dann beginnt Wolfgang Böhmer die Lesung. Zu Weihnachten 2003 traf der Journalist Hesmat zum ersten Mal für eine Sendung des Rundfunksenders Ö3. Jetzt liest er eine Buchpassage über die Strapazen, die Schläge und Erniedrigungen in einem Gefängnis in Tadschikistan. Hesmat senkt seinen Blick, er schaut starr auf den Tisch.
Drei Jahre hat Wolfgang Böhmer insgesamt an dem Buch "Hesmats Flucht" gearbeitet. Auf das erste Treffen der beiden folgten schnell weitere, nach einem Jahr hatten sie 30 Interview-CDs zusammen – und sich angefreundet. Seitdem hat sich viel verändert: "Als ich Hesmat kennenlernte, sollte er aus Österreich abgeschoben werden", erzählt Wolfgang Böhmer. Der damalige Innenminister Strasser hörte übers Radio von Hesmats Schicksal und entschloss sich, ihm ein humanitäres Bleiberecht zu gewähren.
In zwei Jahren wird Hesmat die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten. Bis dahin jedoch sind seine Rechte eingeschränkt, es ist ihm nicht möglich zu reisen – auch seinen Bruder in Afghanistan kann er nicht besuchen. "Ich fühle mich, als ob ich staatenlos wäre", sagt Hesmat. Er spricht flüssig und sicher, sein Deutsch hat einen starken Tiroler Einschlag. Es ist ihm anzumerken, dass er schon früh als Kind erwachsen sein musste. "Alle Menschen machen Fehler – ich mit meinem Bleiberecht aber darf das nicht."
Noch ist Hesmat nicht am Ziel
Hesmat hat eine Lehre als Elektroinstallateur gemacht, er hat Freunde gefunden und wohnt in seiner eigenen Wohnung. Trotzdem ist er noch nicht am Ziel seiner Reise. Über den ehemaligen Innenminister versucht Hesmat jetzt mit Hilfe von Wolfgang Böhmer, seinen Bruder nach Österreich zu holen. Erst dann könne er sich sicher fühlen und das Kapitel Afghanistan abschließen, sagt er.
Ein erster Schritt dafür ist mit seinem Buch getan. Erst kürzlich hat Hesmat es ganz durchgelesen, es hat ihn viel Kraft gekostet. Seitdem kann er kaum mehr schlafen. Aber er ist sich sicher: "Diese Ungerechtigkeit muss erzählt werden." Da Hesmat keine Fotos und Andenken aus seiner Kindheit besitzt, ist das Buch das einzige Denkmal an seine Eltern, der Beweis für ihre Existenz. "Wenn es mir schlecht geht, lese ich die Seiten über meine Kindheit." Für seine Geschichte will er kein Mitleid. Hesmat möchte, dass Menschen auf Flüchtlinge aufmerksam gemacht werden, dass sie sich für die Probleme vor ihrer Haustür interessieren.
Die Lesung ist inzwischen vorbei, Hesmats Blick löst sich vom Tisch und streift durch den Raum. Bewundernd nähern sich langsam ältere Frauen und bitten um Widmungen. Hesmat sagt erleichtert: "Nach einer Lesung geht es mir immer besser."
Zum Abschluss des Abends ergreift der Leiter des SOS-Jugendwohnheims, Minh Nguyen, das Wort. "Hesmat hat viel von uns gelernt", sagt er. Gleichzeitig aber hätten die Mitarbeiter im Heim auch viel von ihm gelernt. Zum Beispiel, nicht klein beizugeben. Auch wenn er noch viel Kraft dafür wird aufwenden müssen, seinen Bruder nach Österreich zu holen und auch wenn ihn seine Situation "manchmal sehr, sehr müde" macht, sagt Hesmat nachdrücklich: "Die Hoffnung gebe ich so schnell nicht auf."
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Arne Semsrott, der Autor dieses Artikels, ist Preisträger des SPIEGEL-Schülerzeitungswettbewerbs 2007. Zusammen mit Florian Zinner hat er eine Reportagereise zu den SOS-Kinderdörfern in Uruguay unternommen.