Betont gelangweilt fläzt sich in der ersten Reihe ein Junge auf seinem Stuhl. Er ist vielleicht zehn, elf Jahre alt und hat es wichtig, seine Haltung zu demonstrieren: "Bei aller Liebe, aber Märchen sind nun wirklich nichts mehr für mich."
Inge Dreyer sieht das anders. "Bürschchen, dich krieg ich", ist ihr erster Gedanke, wenn sie sich einem solchen Schüler gegenüber sieht. Dann beginnt sie, der Klasse ihre Märchen vorzulesen, vielleicht die Geschichte von dem Mädchen Thonglin und der Himmelsschlange: "Tief im Dschungel des fernen Ostens lag ein kleines Dorf.... wenn sich ein Fremder ins Dorf verirrte, glaubte er, das Paradies gefunden zu haben..." Nach wenigen Sätzen schon verändert sich die Haltung des vermeintlich gelangweilten Schülers. Bald sitzt er ganz gespannt da, die Arme auf den Tisch gestützt. Inge Dreyer erzählt weiter, wie Thonglin von einer reichen Frau geholt wird - den Eltern gibt die Fremde Geld und das Versprechen, dass ihre Tochter ein gutes Leben bei ihr haben werde. Der Junge in der ersten Reihe hat inzwischen den Kopf in die Hände gestützt, seine Augen sind groß. Die Vorleserin erzählt, wie Thonglin bald zu Männern geschickt wird, die schreckliche Dinge von ihr verlangen. In der Nacht wird das Mädchen eingesperrt. Durch sein Fenster sieht es eine hölzerne Schlange auf dem Dach eines Tempels, die es verzweifelt um Hilfe anfleht. Tatsächlich rettet die Himmelsschlange Thonglin und weist ihr den Weg zum Dorf der Kinder...
Wenn Inge Dreyer ihr Buch zuklappt, sind die Schüler und Schülerinnen mehr als bereit, den Mindestbeitrag von einem Euro zu zahlen, den Inge Dreyer ohne Abzüge weitergibt, zu großen Teilen an die SOS-Kinderdörfer. Auch die angebotenen kleinen Märchenhefte sind nach kurzer Zeit für den guten Zweck verkauft. Jedes davon hat Inge Dreyer selbst geschrieben, illustriert, ausgedruckt, handkoloriert. 2600 Ausgaben von 19 verschiedenen Märchen sind auf diese Weise bereits entstanden.
Es war ein langer Weg, der aus Inge Dreyer die Frau gemacht hat, die in den Schulen, Seniorenclubs und Krankenhäusern Märchen vorliest, auch wenn er im Nachhinein wie für sie bestimmt aussieht. Schon früh hat die Berlinerin für die SOS-Kinderdörfer gespendet, als sie noch Lehrerin war, und später Schulleiterin. Eine Aufgabe, die sie sehr ernst nahm, vielleicht zu ernst, denn sogar, wenn sie einmal krank war, kam sie zur Arbeit, auch nachdem sie bei einem Schwelbrand giftige Dämpfe eingeatmet hatte und sich gar nicht gut fühlte. Schließlich ging es ihr so schlecht, dass der Amtsarzt ihr mit ernster Miene verkündete, dass sie in den Vorruhestand treten müsse. Inge Dreyer war gerade 45 Jahre alt und "in gewisser Weise erleichtert, dass nun jemand anderes die Verantwortung übernehmen würde".
Aber was stattdessen tun? Inge Dreyer ließ sich von ihrem Partner mitreißen und begann zu schreiben. Heitere Texte zuerst, später Lyrik, für die sie einen internationalen Preis bekam, einen Ehrendoktor und eine Ehrenprofessur, dann schwor sie sich auf Märchen ein, "ein Ausdrucksmittel, in dem man die Wahrheit dekorativ verpacken kann". Vor drei Jahren schließlich begann sie mit "Märchen zaubern Brot für Kinder" - Lesungen für den guten Zweck. Seitdem sind ihre Tage voll und manchmal stöhnt sie ein bisschen über die vielen Termine. "Aber dann denke ich wieder an die Kinder, die mir mit offenem Mund zuhören, und an die anderen Kinder, denen es nicht so gut geht und für die das Geld bestimmt ist." Und schnell ist die Frage, ob sie nicht ein bisschen kürzer treten soll, wieder vom Tisch.
Wenn Sie jemanden als Spender der Woche vorschlagen möchten, schreiben Sie bitte an: simone.kosog@sos-kd.org