13. September 2022 | NEWS

Aufbruch ins Erwachsenenleben

Wie einer jungen Frau der Übergang in eine neue Freiheit gelingt

Der 18. Geburtstag hieß für Esmeralda Neubeginn und Abschied. Sie wagte den Schritt in die Autonomie und findet im SOS-Kinderdorf in Tirana trotzdem bis heute jederzeit eine offene Tür vor.

In Esmeraldas Stimme schwingt Freude und tiefe Zufriedenheit, als sie von ihrem 18. Geburtstag berichtet, den sie vor zwei Jahren im SOS-Kinderdorf gefeiert hat. "Es gab eine große Geburtstagsfeier, und ich habe mich gefreut, dass so viele Leute kamen – auch viele ehemalige SOS-Geschwister, Freunde und Freundinnen."

Esmeralda und ihre Zwillingsschwester Angela kamen im Jahr 2011 in das SOS-Kinderdorf in Tirana. Foto: Katerina Ilievska

Der 18. Geburtstag leitet auch für junge Menschen, die im SOS-Kinderdorf aufgewachsen sind, einen großen Schritt ein. 18 Jahre alt zu werden, bedeutet Neubeginn und Abschied. Es ist ein sehr aktiver Aufbruch hinein in die Autonomie. Die engen Bande zu den SOS-Eltern lockern sich. Im Falle von Esmeralda bedeutet das, dass sie nun seit zwei Jahren nicht mehr im Dorf lebt, aber noch Teil des "SOS semi-independend"-Programms in Albanien ist. In diesem Programm der "Halb-Unabhängigen" begleiten SOS-Betreuer:innen sie weiter in ihr eigenständiges Leben hinein. Zur Zeit besucht Esmeralda die vierte Jahrgangsstufe der Modedesign-Highschool.

Natürlich bleibt sie trotzdem weiterhin eine Tochter ihrer SOS-Mutter Servete und hat in der Familie einen festen Platz. "Ich komme dort regelmäßig vorbei, um Mittag zu essen, Kaffee zu trinken und meine Geschwister zu besuchen", sagt sie. "Im ganzen Haus hängen viele Fotos von mir."

Die neue Begegnung mit der biologischen Mutter

Doch mit ihrem neuen Lebenszyklus hat Esmeralda ganz neue Verhältnisse geschaffen. Sie wohnt seit zwei Jahren mit ihrer leiblichen Mutter zusammen. Während ihrer ganzen Kindheit im Kinderdorf Tirana hatte sie immer Kontakt zu ihrer biologischen Mutter. "Das war nicht immer leicht, da sie oft an verschiedenen Orten in Albanien gelebt hat", so Esmeralda. "Aber SOS hat mich immer dabei unterstützt, mit ihr in Verbindung zu bleiben." In den vergangenen Jahren hatte sich der Kontakt intensiviert, und die beiden haben ein engeres Verhältnis aufgebaut.

Es gibt in der SOS-Arbeit einen Grundsatz: Auch dann, wenn ein Kind nicht mehr bei seiner Herkunftsfamilie bleiben kann, weil seine Eltern überfordert sind, und es in einem neuen Zuhause untergebracht wird, halten die Helfer:innen die Türe zwischen dem Kind und seinen leiblichen Eltern offen. Natürlich steht das Kindeswohl dabei im Vordergrund und gibt Nähe und Distanz vor.

Doch das Bedürfnis von Kindern, auch von ihren biologischen Eltern gesehen und anerkannt zu werden, ist oft groß. Gelingt es, dieses Ansehen zu gewinnen – auch dann wenn die jungen Menschen weiter in der Obhut von SOS verbleiben – kann dies von großer Kraft für die Heranwachsenden sein. Den Kontakt zu biologischen Eltern aufrechtzuerhalten oder aufzubauen, ist dabei nicht immer leicht. Stehen doch oft Fragen, Vorwürfe und Schuldgefühle im Raum. Hier braucht es von den SOS-Mitarbeiter:innen Einfühlungsvermögen und einen langen Atem. Und mit lang kann durchaus ein Jahrzehnt gemeint sein. Denn oft sind die leiblichen Eltern selbst in ein krisenhaftes Leben verstrickt, so dass ihnen die Kraft fehlt, sich ihren Kindern zuzuwenden.

2011 war Esmeralda gemeinsam mit ihrer Schwester ins SOS-Kinderdorf Tirana gekommen. Eine schreckliche Zeit lag hinter den beiden. Sie hatten unter Brücken geschlafen und auf der Straße gebettelt. Am Leib nur ein paar Lumpen. Ein Leben, das ihnen die Kraft raubte und die Würde. Dass ihre eigene Mutter sie zum Betteln gezwungen hatte, war für sie eine tiefe Verletzung ihrer kindlichen Seele gewesen. Diese Wunde aber konnte durch die liebevolle Betreuung durch ihre SOS-Familie heilen.

Wie Bindung entsteht und Versöhnung möglich wird

Über Angebote seitens der SOS-Kinderdörfer an die Mutter der beiden, gelang es dieser, ihr eigenes Leben zu stabilisieren. So konnte es zu einer versöhnlichen Wendung kommen und peu à peu eine neue, tragfähigere Bindung entstehen. In den Schwestern erwuchs die Fähigkeit, ihrer Mutter zu verzeihen und zu verstehen, dass diese damals selbst eine Gefangene ihrer Lebenslage gewesen war.

"Ich bin glücklich darüber, noch einmal mit meiner biologischen Mutter zusammenleben zu können", sagt Esmeralda. Die Beziehung, die sie zu ihr hat, ist nicht mehr die Gebundenheit wie in der Kindheit, sondern eine bewusst angestrebte Bindung. Auch ihre Zwillingsschwester Angela sieht Esmeralda häufig. Auch für diese hat ein neuer Abschnitt begonnen, sie lebt zusammen mit ihrem Verlobten in Tirana.

Noch heute kommt Esmeralda immer wieder gerne ins SOS-Kinderdorf in Tirana zurück. Foto: Alea Horst
 

Die neue Verantwortung nimmt Esmeralda an. "Ich spüre, dass ich nun erwachsen bin. Um mir bestimmte Dinge selbst finanzieren zu können, arbeite ich neben der Ausbildung halbtags als Kellnerin in einer Bar", sagt sie.

Die innere Autonomie, die die beiden nun haben, speist sich aus der Geborgenheit, die sie in den Jahren in ihrer SOS-Familie erfahren haben. Denn die Kinder, die Esmeralda und Angela im SOS-Kinderdorf waren, und die guten Zeiten, die sie dort erfahren haben, sind ja nicht verschwunden. Sie sind wie die frühen Jahresringe eines Baumes ganz tief innen drin.

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