23. August 2012 | NEWS

Wenn Hilfe nicht hilft

Villen für Firmen-Chefs, Zelte für Erdbebenopfer: Weil die Betroffenen nach Katastrophen nicht gefragt werden, verfehlt die Unterstützung oft ihr Ziel. Ein Kommentar von Dr. Wilfried Vyslozil, Vorstand der SOS-Kinderdörfer weltweit, erschienen in der Süddeutschen Zeitung, Rubrik "Außenansicht", Seite 2, Ausgabe vom 22. August 2012.

 


Dr. Wilfried Vyslozil, Vorstand der SOS-Kinderdörfer weltweit.
Katastrophen kommen so gut wie nie unerwartet und trotzdem überraschen sie uns immer wieder aufs Neue. Als in Haiti vor zweieinhalb Jahren die Erde bebte, war es jedem, der das Land auch nur ein bisschen kannte, hinterher klar, dass es so hatte kommen müssen. Die Hauptstadt Port-au-Prince war schon vorher in einem so bedauernswerten Zustand, dass jedes extreme Naturereignis - sei es nun ein Erdbeben, ein Hurrikan oder Tage lange Sturzregen - Zerstörung und massenhaften Tod bringen mussten. Es hätte sogar noch schlimmer kommen können: Ein gutes Jahr später erschütterte ein Erdbeben Japan, löste einen Tsunami und mit ihm die Atomkatastrophe von Fukushima aus. Es war vier Mal so stark wie das von Haiti.

 

Helfen ist ein komplexes Geschäft

Gut nur, dass stets eine riesige Hilfsindustrie bereit steht und innerhalb kürzester Zeit jeden beliebigen Katastrophenort erreichen kann. Erst zur Rettung, dann zur Nothilfe und schließlich für den Wiederaufbau. Es sind Profis, die wissen, was zu tun ist. Sie können mit Spendenkampagnen und aus öffentlichen Töpfen das dafür nötige Geld auftreiben und dann dafür sorgen, dass dieses Geld - wie man so sagt - wieder abfließt. Bisweilen aber fließt auch etwas Geld daneben in unsinnige Projekte. Hilfsorganisationen streiten sich um die öffentlichkeitswirksamsten Vorhaben oder sie alle kümmern sich um ein Modelldorf und im Nachbardorf darben die Menschen. Diese Entwicklungen sind schon oft beklagt worden. Und es wird ja auch etwas dagegen getan. Bei allen größeren Katastrophen versucht inzwischen das Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten der UN (OCHA), die Arbeit der verschiedenen Organisationen vor Ort aufeinander abzustimmen – jedoch nicht immer mit dem gewünschten Erfolg.

 


Die SOS-Kinderdörfer leisteten nach der Katastrophe in Haiti Nothilfe.
Für ein Kinderhilfswerk gehört Hilfe nach einer Katastrophe eigentlich nicht zum Kerngeschäft und doch sind wir mehr und mehr gezwungen, sie zu leisten. Die meisten unserer über 500 SOS-Kinderdörfer stehen in armen und für Katastrophen anfälligen Ländern. Die Opfer stehen dann einfach vor unserer Tür. Wir haben inzwischen Übung darin, schnell auf Notlagen zu reagieren. Aber wir sind uns nicht sicher, ob wir immer alles richtig machen. Helfen ist ein komplexes Geschäft, das zwar immer gut gemeint ist, aber viel zu oft auch Schaden anrichtet.

 

 


Wichtiges Grundnahrungsmittel: Die USA unterstützte Haiti mit Reis.
Unser SOS-Kinderdorf in Port-au-Prince hat das Beben ohne Schäden überstanden. Wir  haben in den Gemeindezentren, die wir rund um unser Dorf zusammen mit der dortigen Bevölkerung betreiben, zehn weitere eröffnet und darin 23.000 Menschen mit Essen versorgt. Der Reis - das wichtigste Grundnahrungsmittel des Landes - kam aus den USA. Haben wir damit am Ende den einheimischen Reisbauern ihren wichtigsten Markt weggenommen und der Wirtschaft des Landes mehr geschadet als genutzt? Im Norden, wo die fruchtbarsten Böden des Landes sind, war das Erdbeben kaum spürbar und richtete keinen Schaden an.

 

Eine Villa kostet mehr als zwanzig einfache Familienhäuser

Eben dort, auf diesen fruchtbaren Böden, beobachten wir heute ein Beispiel dafür, wie Hilfe keinesfalls aussehen darf. In der Gemeinde Caracol im Nordwesten Haitis entsteht derzeit der größte Industriepark des Landes. Er wird finanziert mit einem Teil der zehn Milliarden US-Dollar, die Haiti von der internationalen Gemeinschaft für Nothilfe und Wiederaufbau versprochen worden waren. Die Felder sind längst Fabrikhallen gewichen, in denen in Zukunft bis zu 20.000 Männer und Frauen Kleider zusammen nähen werden - für einen Lohn von knapp drei Euro am Tag.

Die südkoreanische Firma Sea-A ist der einzige Profiteur dieses „Wiederaufbaus“ in einer Gegend, in der gar nichts zusammengestürzt war. Die USA und die Interamerikanische Entwicklungsbank bezahlen die gesamte Infrastuktur des Parks samt Kraftwerk und Fabrikhallen. Sea-A bekommt sogar noch einen günstigen Kredit für die Anschaffung der nötigen Maschinen und Zollerleichterungen für den Export der Produktion in die USA.

Die leitenden Angestellten des Fabrik-Komplexes, die aus Südkorea eingeflogen werden, legen Wert auf ein eigenes eingefriedetes Wohnviertel, eine so genannte Gated Community. Es ist fast unnötig zu erwähnen, dass eine Villa dort mehr kostet als zwanzig einfache Familienhäuser für die Erdbebenopfer von Port-au-Prince. Dort leben noch heute, zweieinhalb Jahre nach der Katastrophe, 400.000 Obdachlose in Zeltstädten.

Ausgerechnet die Firma Sea-A ist in Guatemala und Nicaragua für ihr rabiates Vorgehen gegen Gewerkschaften bekannt und dafür, dass sie sofort ihre Maschinen einpackt und geht, wenn sie in einem anderen Land noch niedrigere Löhne bezahlen kann. In Guatemala hat der Konzern seine Fabrik bereits geschlossen. Die örtlichen Zeitungen titelten: „Sea-A geht nach Haiti“. Auch Guatemala wird immer wieder von schweren Erdbeben heimgesucht. Wäre es zynisch, die Prognose zu wagen, dass die jetzt verlorenen Arbeitsplätze nach der nächsten Katastrophe zurückkehren werden, weil dann so genannte Investitionshemmnisse wie Arbeiterrechte und Umweltstandards keine Rolle spielen?

Die USA wollten schnelle Ergebnisse

Wie kann es zu so etwas kommen? Ganz einfach: Die USA wollten in Haiti schnelle Ergebnisse vorzeigen. Die Pläne für den Industriepark lagen schon vor dem Erdbeben in der Schublade, nur hatte sich kein Investor gefunden. Der südkoreanische Konzern schlug erst jetzt zu, weil die Wiederaufbauhilfe die Investitionsbedingungen erheblich attraktiver gemacht hat. Ein Schnäppchen für ihn und die Geldgeber sind froh, dass die bereit gestellten Mittel abfließen. Nur die Menschen in Haiti hat niemand gefragt. Nicht den Bürgermeister von Caracol und schon gar nicht die Bevölkerung des Städtchens.

Das Beispiel mag extrem sein, die Ausnahme ist es nicht. Hilfe wird immer dann geleistet, wenn jemand glaubt, beim Hilfsempfänger einen Mangel festgestellt zu haben. Oft ist es der Mangel an Nahrung. Im beschriebenen Beispiel geht es um den Mangel an Arbeitsplätzen und Wirtschaftsleistung, unter dem Haiti schon lange leidet und der nach dem Erdbeben nun in den Blick der Weltöffentlichkeit gerückt ist.

In unseren Hilfswerken und Entwicklungsorganisationen fehlt es nicht an Experten, die Programme entwerfen und umsetzen können, um solche Defizite zu beheben. Doch die Menschen in ihrer Not werden dabei nicht ernst genommen.

Wir sollten uns nicht so sehr auf das konzentrieren, was fehlt, sondern viel mehr das suchen, was vorhanden ist. Das, was wachsen kann und sich entwickeln, wenn wir es nur ein bisschen unterstützen. Solche Hilfe macht vielleicht Umwege nötig, braucht Geduld und bringt nicht unbedingt schnell vorzeigbare Ergebnisse. Aber sie ist erfolgversprechend und nachhaltig, weil sie dort ermuntert, wo Engagement und Wille schon da sind. Und sie ist humanitär, weil sie die Menschen in ihrer Not ernst nimmt.

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