Für Agim Kurti sind es Menschen wie seine SOS-Kinderdorfmutter, die die Welt verändern. Dieser Text ist eine Hommage an sie.
Bevor Vjollca Binakaj meine Mutter werden sollte, hatte sie ein anderes Leben: Sie war verheiratet und Mutter eines kleinen Sohnes. Aber dann brach im Kosovo der Krieg aus. Vjollcas Mann floh aus dem Land, und das Schlimmste: Bei einem Verkehrsunfall töteten NATO-Friedenstruppen ihren Sohn. Er war acht Jahre alt. Vjollcas Leben brach auseinander, auch ihre Ehe hielt dem nicht Stand. Vjollca stand vor dem Nichts.
Bald darauf wurde das SOS-Kinderdorf in Pristina gegründet und es wurden Frauen gesucht, die sich um Kinder kümmern sollten, die niemanden mehr hatten. Vjollca überlegte nicht lange. Sie wurde die erste SOS-Kinderdorfmutter im Kosovo und sollte in den nächsten Jahrzehnten Dutzenden von Kindern ein Zuhause geben. Egal, wo jemand herkam, welcher Ethnie er oder sie angehörte, welcher Kultur: In dem so tief gespaltenen Kosovo würde Vjollca sie in ihr Herz schließen und mit ihrer Liebe zu Heilung und Versöhnung beitragen.
Vjollca wurde auch meine Mutter. Sie liebte uneingeschränkt jede:n von uns, sah die Bedürfnisse eines jeden Einzelnen und war glücklich, wenn ein neues Kind in ihre Familie kam.
Wenn wir Kinder morgens aufstanden, war Mutter schon wach, und erst, wenn wir alle schliefen, ging auch sie zu Bett. Dazwischen brachte sie das Kunststück fertig, uns immer wieder zuzuhören und mit den richtigen Ratschlägen zu unterstützen, unsere Lieblingsessen zu kochen und unsere Geschichten aufzuschreiben. Sie wollte, dass wir uns später erinnern: an unseren Alltag, unsere Besonderheiten, das Gemeinschaftsgefühl in unserer Familie. Meine Mutter nannte ihre Aufzeichnungen "das schönste Manuskript der Welt". Wenn sie einmal eine stille Minute hatte, sah man sie praktisch immer lesen – sie hatte mehr Bücher als Kleidungsstücke.
Mutter freute sich mit uns und war mit uns traurig. Unsere Freunde waren immer willkommen und Mutter ermutigte uns, ihnen zu sagen, wie wichtig sie uns sind. "Eines Tages sind sie vielleicht nicht mehr da. Dann kann es zu spät sein und sie werden nie erfahren, wie gerne ihr sie hattet."
So lernten wir jeden Tag unendlich viel von unserer Mutter. Sie verteidigte die Menschenwürde, stand für Wahrheit, Gerechtigkeit und Integrität ein.
Sie war einer dieser besonderen Menschen, die wissen, wie man die Herzen berührt und die an den schweren Schlägen des Lebens nicht zerbrechen, sondern wachsen.
Ich erinnere mich an einen Tag, an dem sie Kleider bügelte. In meiner Erinnerung sprachen wir den ganzen Tag miteinander. Sie sagte zu mir: "Irgendwann wirst du deine eigene Familie haben. Du wirst heiraten, Kinder bekommen und wenn du und deine Frau zur Arbeit gehen, werde ich auf die Kinder aufpassen." Sie freute sich darauf, Großmutter zu werden.
Aber dann kam der Krebs. Er nahm einer der besten Mütter des Kosovos das Leben. An dem Tag, an dem sie starb, weinten alle außer mir. Ich wusste, dass sie das Paradies im Himmel finden würde.
Wenn ich eines Tages Kinder haben werde, werde ich ihnen von meiner Mutter erzählen, ihrer Menschlichkeit und ihrer Wärme. Sie werden sie kennenlernen. Es sind Menschen wie meine Mutter, die die Welt verändern. Ihre Geschichten findet man in keinem Geschichtsbuch, aber sie fließen ein in das Leben ihrer Kinder und Enkelkinder.