Kinder sitzen in Kirche

Die Revoluzzer! 

Wie freiwillige Lehrer, Kirchen, Ministerien und die SOS-Kinderdörfer in Ghana trotz Corona Schule machen  

Eins, zwei, drei, vier… neun Monate! Keine Schule. In den Stadtvierteln Nachbarskinder, die zusammen auf der Straße toben, Fußball spielen, den Eltern helfen, den Lebensunterhalt zu verdienen. Nur Schule, die ist nicht erlaubt in Ghana seit dem Ausbruch der Corona Pandemie. Die Regierung begrenzt, wo sie eben kann, verzweifelt in ihrem Bemühen, die Seuche einzudämmen. Das öffentliche Leben einschränken, den Handel reduzieren, großflächige Tests. All das brachte nur eins: Chaos. Die Menschen hungerten von einem Tag auf den anderen und rebellierten.

Aber Schulen schließen, das ging. Kinder begehren nicht auf. Unwissen verursacht keinen Hunger, jedenfalls nicht sofort. Bildung gibt es fortan nur noch an teuren Privatschulen, die gut ausgestattet sind und wo sich Eltern Internet und Laptop leisten können, um ihre Kinder am Online-Unterricht teilnehmen zu lassen. Die SOS-Kinderdörfer in Ghana wollen das nicht hinnehmen und versuchen, auch benachteiligten Kindern außerhalb des Kinderdorfes Bildungschancen zu geben. Eine Riesenherausforderung - schon ohne Corona.

Durch die coronabedingten Schulschließungen bleiben die Kinder in Ghana zuhause. Viele helfen ihren Eltern im Haushalt oder beim Geldverdienen mit. Foto: Alea Horst

"Corona ist eine Katastrophe für die Menschen hier"

Vor Ort-Besuch in der Fischerei-Community in Glefe, einem der ältesten Stadtteile von Ghanas Hauptstadt Accra. Die Gassen sind kaum einen Meter breit, es riecht nach Fisch. Laute Gospelmusik mit wummernden Bässen übertönt das Rauschen des nahen Meeres. Frauen wiegen sich im Rhythmus der Musik. Männer sitzen am Boden und flicken blaue Netze. Eine Maske trägt hier niemand. Alles wirkt normal. Nur die Kinder, die eigentlich in der Schule sein sollten, sitzen ebenfalls vor den kleinen Lehmhäusern. Das ist nicht normal.

Der Ort Glefe lebt von der Fischerei. Das Leben geht trotz Corona normal weiter - außer für die Schulkinder. Die müssen zuhause bleiben. Foto: Alea Horst

Sozialarbeiter Jayjom kennt die Menschen hier gut. Er ist jeden Tag vor Ort, um die Familien zu unterstützen. "Corona ist eine Katastrophe für die Menschen hier. Die meisten leben von der Hand in den Mund und als die Fischfabriken dichtmachten, die Fischer nicht mehr raus durften, die Märkte schlossen, wussten viele nicht mehr weiter. Es ging nur noch ums Überleben. Schule war da natürlich völlig zweitrangig. Auch als die Regierung dann Schul-TV-Sender, Radioschule und online Unterricht anbot, konnten die meisten hier nur mit dem Kopf schütteln. Wer von den Familien hier hat schon einen Fernseher, geschweige denn Internet? Sie sind doch froh, wenn sie die Miete zahlen können und eine Mahlzeit auf den Tisch bringen", sagt Jayjom.  

250 Familien aus dem SOS-Kinderdorf-Programm in Glefe benötigten innerhalb kurzer Zeit dringend Hilfe. Nahrungsmittel, Desinfektionsmittel und Masken und das alles unter Lockdown-Bedingungen. "Nachdem wir die akute Not der Familien gelindert hatten, überlegten wir, wie wir die Kinder am Unterricht beteiligen konnten. Wenn wir wussten, dass die Mütter die Kinder beim Lernen unterstützen würden, verteilten wir Fernseher, damit Kinder am staatlichen Fernunterricht teilnehmen konnten. Nicht ideal, aber besser als gar keine Schule", sagt Sozialarbeiter Jayjom.  

Lernen via Fernsehprogramm 

Vor einem der Lehmhäuser hilft ein junges Mädchen ihrem kleinen Bruder gerade bei der Morgentoilette. Die laute Musik ist plötzlich aus. "Ich habe gerade versucht, an meiner heutigen Schulstunde teilzunehmen. Aber der Strom ist weg. Mal wieder", sagt die 14-jährige Priscilla und zuckt mit den Schultern. "Da ist nichts zu machen." Priscilla und ihre Familie haben einen der Fernseher bekommen. Seitdem gibt sich das Mädchen alle Mühe jeden Tag dem Programm zu folgen.

In dem winzigen Raum den Priscilla mit ihrer Mutter, ihrer Oma und den zwei Geschwistern teilt, herrschen gefühlte 40 Grad. Die Luft steht. Konzentrieren fällt hier schwer. Priscilla scheint das nichts auszumachen. Ihre Mutter Joanna hat ihr eingeschärft, dass Wissen der einzige Weg raus aus der Armut ist. "Gott ist bei uns!" hat das Mädchen an die Wand des Zimmers geschrieben. Er gibt ihr die Stärke, irgendwann Ärztin zu werden, ist Priscilla überzeugt.  

Zu warm, um sich zu konzentrieren: Die 14-jährige Priscilla versucht im 1-Zimmer-Haus der Familie zu lernen. Auch die Wand dient ihr als Schulheft. Foto: Alea Horst

Ein paar Häuser weiter sitzt Ablawi Mansa mit ausgestreckten Beinen und hochschwanger zusammen mit ihren vier Kindern auf dem Fußboden ihres 1-Zimmer-Hauses. Das Schulprogramm läuft und die TV-Lehrerin buchstabiert: "S-u-f-f-e-r. S, ju, ef,ef, i, ar. Und noch einmal…. Wir wiederholen zusammen." Dann folgt das nächste Wort und das nächste. So geht es 20 Minuten lang. „Wenn wir nicht mitkommen, überspringen wir Wörter“, erklären die Kinder und versuchen noch schnell, das letzte Wort mitzuschreiben. Die vier sind überfordert. Das Wort Mama zu buchstabieren gelingt keinem von ihnen. "Ich sitze jeden Tag mit ihnen zusammen und wir lernen. Selbst wenn keine Schule ist, müssen sie vor dem Spielen lernen", sagt Mama Ablawi. Sie selbst könne gerade mal schreiben und rechnen, dass dürfe sich bei ihren Kindern nicht wiederholen!

Mutter Ablawi wacht hochschwanger darüber, dass ihre Kinder beim Online-Unterricht mitmachen. Bildung ist für sie das einzige Mittel gegen Armut. Foto: Alea Horst

"Die Familie hat mich von Anfang an beeindruckt. Die Kinder sind immer sauber und sie lernen wirklich jeden Tag. Ich habe es kontrolliert. Kam oft unangekündigt vorbei und immer saßen sie da und lernten. Wie jetzt. Aber es stimmt, das Schulprogramm kann die Schule einfach nicht ersetzen", bestätigt Sozialarbeiter Jayjom. "Deswegen arbeiten wir zusätzlich mit einer lokalen Schulinitiative in Glefe zusammen." 

Die Schule am Meer 

In windigen Höhen direkt am Meer können die Kinder weiterhin in die Schule gehen. Foto: Alea Horst

Hände desinfizieren und Maske auf heißt es, bevor die kurzen Beinchen die wackelige Wendeltreppe hinauf in den offenen Rohbau über dem Meer stürmen. Der Wind bläst durch den Raum ein paar Blocks von Mama Ablawis Haus entfernt. Gut 50 Kinder sitzen dort auf zwei Klassen verteilt. Beste Corona-Schutzbedingungen. Bei den Älteren ist gerade Englisch-Unterricht. Die Kleinen lösen Matheaufgaben. Freiwillige wie der 27-jährige Caiaphas Appiah engagieren sich hier als Lehrer. Nein, Lehrer sei er nicht, aber er liebe Kinder und habe Spaß am Lehren. Als der Lockdown kam, wollte er etwas tun, erklärt der Hilfslehrer. Da seien Kinder wie Elisabeth mit unglaublichem Talent. Die bräuchten jemanden, der sie fördert.

Während Appiah die Aufgabe durchgeht, scherzt er mit den Kindern, motiviert und lobt. Selbst eine kleine Belohnung hat er für die Besten dabei. Denn er will, dass die Kinder weiterhin in den Unterricht kommen. "Wenn Elisabeth mal nicht kommt, bin auch ich traurig. Ich weiß, dass sie dann arbeiten muss, statt in die Schule zu kommen. Ich finde wir sind verantwortlich dafür, dass die Kinder nicht auf der Straße landen. Deswegen bin ich hier", erzählt Caiphas. 

Freiwillige Lehrkräfte wie Caiaphas Appiah sorgen in der Schule am Meer dafür, dass die Bildung weitergehen kann. Foto: Alea Horst

Die Initiative und das Engagement der Hobby-Lehrer ist beeindruckend. Dennoch reichen ihre Kapazitäten nur für 50 Kinder. Ganz anders 250 km nordwestlich von Accra in Kumasi. Hier hat das SOS-Kinderdorf-Team eine Revolution gestartet.  

Die Revolution findet in einer Kirche statt 

"Als unsere Schulen auch nach fünf Monaten wegen Covid-19 geschlossen blieben, brauchte es eine Lösung. Ja, es ist nicht die Zeit, um Risiken einzugehen. Aber die Kinder spielten zusammen ungeschützt auf der Straße. Was machte es also für einen Sinn, die Schulen zu schließen. So waren die Kinder noch gefährdeter", erzählt Joseph Yanne, Projektleiter der SOS-Kinderdörfer, aus Kumasi. Yanne ist ein erfahrener Koordinator. Weiß, dass er sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen darf mit seiner Kritik. Die Gesellschaft ist stark traditionell strukturiert. Bildung hat nicht den höchsten Stellenwert. Wenn er etwas erreichen wollte, dann nur mit den Chefs der Gemeinden, Kirchenvertretern und Ministerialbeamten zusammen. Ein Weg, der nervenraubend klingt.

Not macht erfinderisch: In Ghana haben die Teams der SOS-Kinderdörfer wahre Improvisationskunst bewiesen. So können die Kinder weiterlernen. Foto: Alea Horst

Yanne steht vor einem grauen, fensterlosen Kirchenrohbau, aus dem Kinderstimmen dringen. Davor ein Tisch mit Desinfektionsmittelspendern und einer Frau, die Masken an Kinder ohne Mund-Nasen-Schutz verteilt und jedes Kind registriert. Im Innenraum der Kirche jeweils ein Kind, zwei Stühle. Mindestabstand zum nächsten: 1,50 Meter.

"Als wir begannen, mussten wir viel Überzeugungsarbeit leisten. Die Schulen waren schließlich offiziell geschlossen und nun wollten wir sie wieder eröffnen mit freiwilligen Lehrern und einem gut durchdachten Hygienekonzept. Eine Revolution! Nicht jeder war davon begeistert. Manche meinten, wir führten damit die Regierung vor und nutzten auch noch die von ihr bezahlten Lehrkräfte." Während Yanne erzählt, blitzt immer mal wieder ein Grinsen auf, dass er dann schnell wieder zu unterdrücken sucht.

Der lange Atem des Teams zahlt sich aus. Schließlich stimmen Ministerien und Gemeinden zu, das Schulprojekt zu unterstützen. Die religiösen Vertreter stellen sogar Kirchen zur Verfügung, um den Kindern und Lehrern an acht Standorten genug Raum zum Lernen zu geben.  

Unorthodox: Die Kirche wird nun als Schule genutzt. Mindestabstand, Masken, Desinfektionsmittel - alles coronakonform. Foto: Alea Horst

Zwischen einer Plastikstuhl-Kinder-Betonpfeiler-Reihe läuft ein Lehrer in dem hallenden Kirchenschiff auf und ab und ruft: "Ja Mispa, weißt du welcher Vokal in dem Wort "Goat" steckt? o oder oa?". Die zarte Kinderstimme, die von dem hohen Raum geradezu verschluckt zu werden droht, piepst: "o." "Höre noch einmal genau hin", motiviert der junge Lehrer und fügt an die Klasse gewandt hinzu: "Keine Sorge, wenn es mal nicht klappt. Das ist Teil des Spiels. Aber wir schaffen das zusammen!" 

Weil Menschen nicht länger tatenlos zusehen wollten, bereit waren, Verantwortung zu übernehmen und 28 Lehrer mehr machen, als sie müssen, gehen 712 Kinder in Kumasi wieder in die Schule. Und täglich werden es mehr.

Informationen zum Projekt

Das Projekt läuft an acht Standorten in Kumasi und wird von 28 freiwilligen Lehrern unterstützt. Das SOS-Kinderdorf-Team unter der Leitung von Joseph Yanne arbeitet bereits jetzt an einer Fortführung, um benachteiligten Kindern auch an öffentlichen Schulen qualitativ hochwertigen Unterricht zu bieten, z.B. in Form von Projektwochen, Nachhilfe oder Kinder-Programmierkursen.  

"Das werden wir ganz sicher auch nach Covid in irgendeiner Form fortführen. Denn wir haben bewiesen, dass wir etwas verändern können. Das ist eine echte Chance für Kinder, die nie eine hatten", glaubt Projektkoordinator Yanne.  

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