Hand in Hand: Die Kinder aus Rafah und Bethlehem haben keine Berührungsängste. Foto: Jakob Fuhr

Palästina: Ein neues Leben in Sicherheit

Wie geht es den Kindern nach der Evakuierung aus dem SOS-Kinderdorf in Rafah, Gaza? Wir haben sechs Wochen später mit drei Mitarbeiterinnen der SOS-Kinderdörfer in Bethlehem gesprochen.

"Wir wurden mit offenen Armen von freundlichen Menschen empfangen. Wir sind endlich angekommen, an einem Ort, der so anders ist, als der, von dem wir geflohen sind. Wir sind in Sicherheit!" So beschreibt Ola ihre Ankunft im SOS-Kinderdorf in Bethlehem am 11. März 2024. Die SOS-Kinderdorf-Mutter ist zusammen mit zehn weiteren Mitarbeitenden und 68 Kindern aus Rafah evakuiert worden.

Dort wütet weiterhin der Gaza-Krieg. "Doch hier gibt es zum Glück keine Gefahr mehr," sagt Ola. Und auch die Begegnung der neu angekommen Kinder und jenen aus Bethlehem läuft von Beginn an harmonisch ab. "Es gibt keine Distanz zwischen den Kindern. Es ist bemerkenswert, dass sie sich nicht verschließen, nach allem, was sie im Krieg erlebt haben. Ich bin so stolz auf sie, dass sie ihr neues Leben in Bethlehem annehmen und auf andere Menschen zugehen können." Trotz Terror und Tod haben sich die Kinder aus Rafah ein offenes Herz bewahrt und sind herzlich aufgenommen worden.

SOS-Kinderdorf-Mutter Ola hat das Schachspielen für sich entdeckt und kann auch die Kinder dafür begeistern. Foto: Jakob Fuhr

Harmonisches Miteinander in Bethlehem

Beim gemeinsamen Spielen kommen sich die Kinder ganz ungezwungen näher. Neue Freundschaften werden geschlossen und auch beim Essen sind sich alle einig: "Heute habe ich für die Kinder ein Gericht gekocht, das sie alle lieben. Wir haben es in Rafah oft gemacht. Es heißt Bukhari und wird in vielen arabischen Küchen zubereitet. Es besteht aus Hühnchen, Reis und Gewürzen. Gestern baten mich die Kinder diese Mahlzeit zu kochen, weil sie sich erinnerten, dass wir sie eine Weile nicht gegessen hatten. Sie finden es schön, Traditionen aus unserem Leben in Rafah hierher zu bringen", sagt Ola und freut sich darüber, dass ihre Kochkünste über die Grenzen hinweg Anklang finden.

Was die meisten Kinder ebenfalls begeistert, ist Schach. Ola hat ein Brett samt Figuren auf einem Markt entdeckt und es sich zuerst selbst und dann einigen Kindern beigebracht. Einem der älteren Jungs gefällt Schach besonders gut. "Nicht weiter sagen: Manchmal lass' ich ihn extra gegen mich gewinnen, um sein Selbstbewusstsein zu stärken", gibt Ola lächelnd zu.

Evakuierung aus Rafah

Ghada Hirzallah, Leiterin der SOS-Kinderdörfer in Palästina. Foto: Jakob Fuhr 

Rafah ist momentan einer der gefährlichsten Flecken Erde. Die Bomben haben Gebäude nur wenige hundert Meter entfernt vom dortigen SOS-Kinderdorf getroffen. Eine Evakuierung war die einzige Chance auf Sicherheit. Deren Umsetzung hat mehr als vier Monate gedauert, weil nicht nur das Sicherheitsrisiko immens war, sondern auch die politischen und bürokratischen Auflagen erfüllt werden mussten. "Diese Mission war riskant und schien unmöglich. Um ehrlich zu sein, verlor ich manchmal die Hoffnung", erzählt Ghada Hirzallah, Leiterin der SOS-Kinderdörfer in Palästina. "Doch unser Wille, ihnen zu helfen, und der Glaube an das Gelingen waren stärker. Jeden Abend betete ich für die Kinder. Wir gaben nicht auf und arbeiteten als länderübergreifendes Team zusammen."

Sie kämpft mit den Tränen, als sie von der Flucht berichtet. Es sind Freudentränen. Tränen der Erleichterung über dieses "Wunder", wie Ghada die Rettung nennt! "Es ist ein wahr gewordener Traum. Ich bin selbst Mutter und kann mir vorstellen, wie schwer die ganze Situation für die Kinder gewesen sein muss. Aber jetzt sind sie in Sicherheit, können spielen, tanzen und zur Schule gehen."

Krieg in Gaza hinterlässt Spuren 

Selbstverständlich gehen der Krieg, die Angst ums eigene Leben und das der Angehörigen sowie die Trennung von ihnen nicht spurlos an den Kinderseelen vorbei. "Sie sind traumatisiert, aber auch sehr stark. Wir kümmern uns um ihre körperliche und mentale Gesundheit. Zusammen mit Traumatherapeut:innen unterstützen und begleiten wir die Kinder psychologisch. In ihren Alltag sind viele Aktivitäten wie Mal- und Tanztherapie integriert, in denen sie auf spielerische Weise mit dem Erlebten umzugehen lernen", sagt Ghada. 

Endlich Kind sein und sich frei bewegen können. Foto: Jakob Fuhr

Zwischen Sorglosigkeit und Schuldgefühlen

Anstatt sich ständig Sorgen machen zu müssen, können die Kinder nun zusammen Fußball spielen, tanzen oder durch den Skatepark des SOS-Kinderdorfs in Bethlehem rollen. Kurz: Sie können Kinder sein. "Sie haben ein Recht darauf, wie jedes anderes Kind, frei und sicher zu leben, und ihre Träume und Ziele zu verfolgen", sagt Ghada. Doch das fällt den Kindern nicht immer leicht: "Sie sind zwiegespalten: Einerseits sind sie froh, hier zu sein, andererseits fühlen sie sich schuldig, weil sie ihre Angehörigen und Freunde zurückgelassen haben. Aber wir arbeiten mit ihnen zusammen, damit sie ihre Schuldgefühle loslassen können. Sie sind smart und lernen mit der Situation umzugehen. Und sie sind dankbar für die Möglichkeit hier in Bethlehem."

Dazu zählt auch die Chance auf Bildung. Die Kinder konnten seit Beginn der Kampfhandlungen in Gaza nicht zur Schule gehen. Nun erhalten sie übergangsweise Unterricht, bis das neue Schuljahr beginnt, und sie am regulären Schulalltag teilnehmen können.

Neues Leben in Bethlehem

Sozialarbeiterin der SOS-Kinderdörfer, Eslam. Foto: Jakob Fuhr

So absurd es klingt: Wer an Kampfgeräusche und ein Leben in Angst gewöhnt ist, braucht einen Moment, sich mit Ruhe und Frieden vertraut zu machen. "In Rafah standen die Kinder unter Dauerstress. Sie konnten nicht einfach auf die Straße spazieren. An solch simple Sachen, die für andere Menschen selbstverständlich sind, mussten sie sich erst wieder gewöhnen", sagt Eslam. Die Sozialarbeiterin ist seit 13 Jahren für die SOS-Kinderdörfer tätig und hat die Kinder auf der Flucht von Rafah nach Bethlehem begleitet. "Die Symptome des Krieges kommen noch immer hoch: vor allem nachts in Form von Bettnässen und Albträumen." Nachtruhe hat es in Gaza nicht mehr gegeben. "Ständig sind die Kinder zu uns gekommen und haben gefragt: 'Werden wir morgen früh lebend aufwachen?'" Die meist gestellten Fragen der vergangenen Monate "Wann wird unsere Zeit zum Sterben kommen? Wann sind wir dran?" schwebten wie ein Damoklesschwert über ihnen.

Sorge um die Sicherheit der Angehörigen

Nun bangen sie zwar nicht mehr um ihr eigenes Leben, aber immer noch um das von ihren Angehörigen und Freunden, die sich in Rafah befinden. "Wir halten so gut es geht Kontakt mit ihnen. Es gab einen großen Schockmoment, als während eines Videoanrufs das Haus einer Mutter, deren Kinder in unserer Obhut sind, bombardiert wurde und die Verbindung zusammenbrach. Die Kinder haben das miterlebt und wir befürchteten das Schlimmste", erzählt Eslam. Nach mehreren Tagen Funkstille gab es gute und schlechte Nachrichten: "Alle Menschen, die sich im Haus befanden, sind leider gestorben. Darunter auch der Onkel der Kinder. Aber ihre Mutter hat überlebt. Unser größter Wunsch ist, dass der Krieg in Gaza endet und wir alle in unser Zuhause zurückkehren können, zu unseren Liebsten!"

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