„Ich weiß nicht, ob ich es ohne die SOS-Kinderdörfer geschafft hätte.“

Nelly Atencio ist mit ihrer Familie vor Armut und Gewalt aus Venezuela nach Kolumbien geflohen. Die SOS-Kinderdörfer weltweit unterstützen die Großmutter und ihre Familie beim Kampf gegen Diskriminierung und behandeln die Traumata der Familie.

Als die Krise in seiner Heimat Venezuela sich immer weiter zuspitzte, er nur noch selten Arbeit als Tagelöhner fand und immer häufiger mit leerem Magen ins Bett gehen musste, verkaufte Deivid José Atencio alles, was ihm noch geblieben war und bezahlte damit einen Motorradfahrer, der ihn über die Grenze nach Kolumbien brachte. Im Nachbarland wollte er fair bezahlte Arbeit finden und ein neues Leben beginnen, doch er fand den Tod. Die SOS- Kinderdörfer weltweit unterstützen jetzt seine ebenfalls nach Kolumbien geflohene Familie unter anderem mit psychotherapeutischer Hilfe. „Ich weiß nicht, ob ich es ohne die SOS-Kinderdörfer geschafft hätte, den Tod meines geliebten Sohnes zu überstehen“, sagt seine Mutter Nelly Atencio. 

"Wenn wir früher von den SOS-Kinderdörfern gewusst hätten, würde mein Bruder heute noch leben."

Rosa Atencio
Nelly (ganz links) und ihre Tochter Rosa im Sozialzentrum der SOS-Kinderdörfer im Gespräch mit Sozialarbeiterin Dina. Foto: Jakob Fuhr

Wie viele venezolanische Flüchtlinge machte auch Deivid José Atencio sich auf den Weg in die Hauptstadt Bogotá, um dort als Tagelöhner auf dem Bau Arbeit zu finden. „Eines Tages hatte er starke Schmerzen und ging ins Krankenhaus. Aber weil er keine Krankenversicherung und kein Geld hatte, hat man ihn dort nicht richtig behandelt. Zwei Tage später war er tot“, berichtet Nelly Atencio mit zittriger Stimme und wischt sich die Tränen ab, die ihr über die Wangen laufen. 

Sie sitzt vor ihrer aus Holz, Plastikplanen und Wellblech zusammengezimmerten Hütte in einem Armenviertel von Riohacha im Nordosten Kolumbiens, rund 1.000 Kilometer nördlich der Hauptstadt Bogotá. Woran ihr Sohn vor sechs Jahren gestorben ist, wird die 54-Jährige nie rausfinden. Sie vermutet, dass er einen Blinddarmdurchbruch erlitt.  

Familienstärkungsprogramm heilt Traumata 

Deivids Schwester Rosa glaubt, dass ihr Bruder noch leben könnte, hätten er und seine Familie die Mitarbeiter:innen der SOS-Kinderdörfer weltweit früher getroffen. „Als wir vor sieben Jahren in Kolumbien ankamen, hatten wir keine Ahnung, wie wir uns hier registrieren lassen können, um Anspruch auf eine kostenlose medizinische Versorgung und eine Arbeitserlaubnis zu erhalten. Die Sozialarbeiterinnen der SOS-Kinderdörfer haben uns alles erklärt und uns bei allen Schritten begleitet“, sagt die 30-jährige Rosa.  

In der Hütte der Familie Atencio gibt es kein fließend Wasser, deshalb holt sie mit ihren Kindern Trinkwasser aus dem Sozialzentrum. Foto: Jakob Fuhr

Seit vier Jahren nehmen Nelly, ihre Tochter Rosa und die insgesamt 13-köpfige Großfamilie am Familienstärkungsprogramm der SOS-Kinderdörfer weltweit teil. Die schulpflichtigen Kinder gehen seitdem zur Schule und nehmen nachmittags an Workshops teil, in denen sie viel über Kinderrechte erfahren, lernen über ihre Gefühle zu sprechen und mit anderen Kindern spielen, basteln und malen.  

Ihre Eltern lernten in Trainings, ihre Kinder mit Liebe und ohne physische oder emotionale Gewalt zu erziehen und Töchter und Söhne gleich zu behandeln. Auch das Thema Gleichberechtigung in der Partnerschaft stand auf dem Lehrplan. „All das erscheint uns jetzt selbstverständlich, aber in unserer Kultur lief das leider lange ganz anders“, berichtet Rosa.  

Ihre Familie erhielt nach dem Tod des geliebten Sohnes und Bruders in Einzel- und Gruppensitzungen zudem psychologische Unterstützung. „Immer, wenn ich jemanden brauche, der mir zuhört und Rat gibt, kann ich bei den SOS-Kinderdörfern eine kostenlose Sitzung vereinbaren“, sagt Rosa dankbar.  

Angst vor Vertreibung 

Rosa stammt aus der Volksgruppe Wayúu, die für ihre kunstvollen Handarbeiten bekannt ist. Foto: Jakob Fuhr

Neben der emotionalen Unterstützung bekam Nelly ein Startkapital in Form von Garn, Stoff und Nadeln, um Taschen zu häkeln und Kleider zu nähen. Nelly und ihre Familie sind Wayúu, eine indigene Bevölkerungsgruppe, die in Kolumbien und Venezuela lebt und für ihre kunstvoll gefertigten Hängematten und Taschen sowie ihre bunten Gewänder bekannt ist. „Alles, was ich herstelle, verkaufe ich. Ich bin sehr stolz, dass ich so etwas verdiene, damit meine Enkelkinder zur Schule gehen können. Sie sollen es einmal besser haben als ich. Sie sollen einen guten Schulabschluss machen und später in einem Büro arbeiten und etwas Gutes für die Gemeinschaft tun“, so die 54-jährige Oma. Sie selbst konnte nur zwei Jahre zur Schule gehen. Nelly war acht Jahre alt, als ihre Mutter schwer krank wurde und ihr Vater beschloss, dass sie fortan zu Hause bleiben und sich um ihre Mutter kümmern müsse. Für Nelly war dies das Ende ihrer Schulzeit und ihrer Kindheit. 

Auch wenn sie es bereits besser haben als sie, machen Nelly und ihre Tochter sich viele Sorgen um das Wohl ihrer Kinder und Enkel. Manchmal reicht das Geld nur für zwei Mahlzeiten am Tag, mit insgesamt 13 Menschen leben sie in der windschiefen Hütte, in die es oft reinregnet und die manchmal ganz unter Wasser steht. „Als wir vor sechs Jahren hier ankamen, haben wir 200.000 Pesos (umgerechnet rund 42 Euro) an einen Dorfvorsteher gezahlt, der uns dieses Grundstück zugewiesen hat. Aber wir haben keinerlei Dokument erhalten, dass es uns gehört. Wir haben Angst, irgendwann von hier vertrieben zu werden. Dann würden wir wieder vor dem Nichts stehen“, berichtet Rosa während sie im Schatten eines Baumes vor der Hütte der Familie sitzt und ihrem dreijährigen Sohn Abiud (Name geändert) liebevoll durchs Haar fährt. 

Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt 

Auch die Diskriminierung der Wayúu bereitet der zweifachen Mutter Sorge. Trotz einer gültigen Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung haben viele der vor Armut und Gewalt aus Venezuela geflohenen Wayúu auf dem Arbeitsmarkt nicht die gleichen Chancen. „Die SOS-Kinderdörfer behandeln alle Menschen gleich, egal, woher sie kommen. Aber viele Menschen hier machen das nicht“, berichtet Rosa, die in Riohacha einen Job als Haushaltshilfe gefunden hatte. Als die Familie erfuhr, dass sie Wayúu aus Venezuela ist, wurde sie sofort gefeuert. 

Verzweifelte Flüchtlinge

Marco, 18, arbeitet auf Baustellen. Oft wir er um seinen Lohn betrogen, weil er als Flüchtling von der Polizei nicht ernst genommen wird. Foto: Jakob Fuhr

Auch ihr kleiner Bruder Marco wird auf Grund seiner Herkunft benachteiligt. Gegen Mittag kommt er bei über 30 Grad verschwitzt nach Hause, setzt sich zu seiner großen Schwester in den Schatten. Wieder einmal hat er vergebens versucht, endlich seinen noch ausstehenden Lohn einzutreiben. Neun Tage lang hat er in der prallen Sonne als Tagelöhner auf einer Straßenbaustelle geschuftet. Insgesamt 360.000 Pesos (umgerechnet rund 77 Euro) hätte er dafür erhalten sollen – bekommen hat er nichts. „Ich habe keinen Vertrag. Ich kann nicht zur Polizei gehen und meinen Chef anzeigen und meinen Lohn einklagen. Wenn die venezolanischen Arbeiter Stress machen, beschäftigen die kolumbianischen Baufirmen einfach einen anderen Flüchtling. Es gibt genug Verzweifelte, die auf die Versprechen reinfallen und jeden Job machen“, sagt der 18-Jährige Marco frustriert. Morgen wird er sich wieder auf den Weg machen, um zu versuchen, das ihm zustehende Geld doch noch zu bekommen. 

Genau wie seine häkelnde Mutter Nelly gibt er nicht auf. „Die SOS-Kinderdörfer und meine Kinder geben mir die Kraft, nach dem Tod meines Sohnes weiterzumachen. Er war der Erste aus der Familie, der nach Kolumbien gegangen ist. Sein Tod soll nicht umsonst gewesen sein“, sagt die tapfere Frau, wischt sich noch eine Träne aus dem Auge – und häkelt weiter. 

 

Helfen Sie Kindern und Familien

Not, Hunger, Flucht: In Kolumbien unterstützen die SOS-Kinderdörfer Familien, Kinder und Jugendliche, die vor der ausweglosen Situation in Venezuela fliehen. Helfen Sie mit!

 

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