Terror, Gewalt und die Strapazen der Flucht: Viele Kinder, die in den Flüchtlingslagern im Nordirak leben, haben Traumatisches erlebt. SOS-Helfer üben mit den Kindern Techniken, damit sie sich selbst helfen können, wenn sie von den furchtbaren Erinnerungen eingeholt werden.
Delal* schließt ihre Augen und stellt sich vor, dass sie mit ihrer Familie in einem Garten voll bunter Rosen sitzt. Dieser Garten ist ihr Ort der Sicherheit. An diesen imaginären Ort “geht” Delal immer dann, wenn die Erinnerungen an die Flucht hochkommen. An den Tag, als ihre Familie vor dem IS floh, der ihr Dorf im Sinja-Gebirge im Nordwesten des Iraks angriff.
In den Bergen angegriffen
Sieben Tage lang lief sie mit 20 anderen Verwandten über die Berge. Ohne Essen, im Gepäck nur das, was sie anhatten. Die Sonne brannte erbarmungslos auf die Flüchtenden nieder. Bei Temperaturen bis 50° Grad gab es nur eine Flasche Wasser. Der Schraubverschluss diente als Mini-Becher, damit alle etwas abbekamen. Doch noch schlimmer als die Entbehrungen war die Angst. Auf der Flucht wurden sie von IS-Kämpfern angegriffen, denen sie nur mit knapper Not entkamen. "Ich habe die IS-Männer in den Bergen erlebt", erzählt Delal. Sobald ich danach einen Mann mit Bart gesehen habe, bekam ich Panik."
Hilfe im Flüchlingscamp
Delal ist eines von rund 6.600 Kindern, die in den Flüchtlingslagern im Nordirak leben. Die Kinder haben schwere traumatische Erlebnisse hinter sich und leiden extrem darunter. Mitarbeiter der SOS-Kinderdörfer helfen ihnen, das Erlebte zu verarbeiten und selbst gegen das Trauma anzukämpfen. Lokale Freiwillige wurden speziell ausgebildet, um den Kindern und Jugendlichen wirksam zu helfen. Sie haben Delal und drei ihrer Cousinen verschiedene Techniken gezeigt, wie sie auf Panikattacken und schlimme Erinnerungen, so genannte "Flashbacks" reagieren – und so ihre Gefühle aushalten und in den Griff bekommen können. "Hier im Camp habe ich auch gelernt, dass nicht jeder Bartträger automatisch ein Verbrecher ist", sagt Delal.
Die Angst sitzt im Körper
Wajdi* musste als Neunjähriger auf der Flucht erleben, wie sie von Kämpfern verfolgt und sein Onkel getötet wurde. Als der Junge im Flüchtlingslager ankam, litt er unter starken Schmerzen im ganzen Körper und konnte seine Glieder nicht mehr bewegen. Doch drei verschiedene Ärzte konnten keinen körperlichen Grund dafür feststellen – Auslöser war das Trauma, das der Junge erlitten hatte. "Der Schmerz kam früher häufig wieder", erzählt Wajidi, "heute nur noch selten. Wenn es wieder anfängt, strecke ich meine Hand aus und stelle mir vor, dass ich meine Gedanken auf meine Hand lege. Dann schließe ich langsam die Hand und lasse die Gedanken darin verschwinden, wie ein Zauberer." Auch Waidis Eltern haben an den Kursen teilgenommen und gelernt, wie sie ihr Kind verstehen und unterstützen können.
Die Bilder im Kopf ausschalten
Mit der "Fernseher-Technik" schafft es der dreizehnjährige Berham*, das Bild auszuschalten, das ihn auch noch vier Jahre nach Flucht aus seinem Dorf immer wieder verfolgt: Ein Kind, das er in den Wirren der Flucht durch die Tür eines brennenden Haus sah. Immer, wenn die schreckliche Erinnerung in ihm hochkommt, stellt er sich vor, seine Hand sei ein Fernseher, in der er die Szene sieht. Dann schaltet er den imaginären Apparat auf ein anderes Programm um und ruft sich dabei die Bilder ins Gedächtnis, als er und seine Familie lebend im Camp ankamen und an die Kinder Spielzeuge verteilt wurden.
SOS-Zentrum als Anlaufstelle
Wenn Delal schulfrei hat, kommt sie mit ihren Cousinen gerne in die Tagesstätte, die SOS im Flüchtlingslager eingerichtet hat. Hier gibt es verschiedene Lern- und Freizeitangebote. Auch die Techniken zur Traumabewältigung werden regelmäßig spielerisch geübt. Neben ihren Erfahrungen haben Kinder wie Wajdi, Delal oder Berham noch etwas gemeinsam: Alle möchten später einmal als Arzt arbeiten und anderen helfen.
* Namen zum Schutz der Kinder geändert