Kühlschrank, Laptop, Kommode. Auf der Kommode ein großer Fernseher. Davor ein langer Esstisch an dem sieben Kinder sitzen und konzentriert das Geschehen auf dem Bildschirm verfolgen. Eine normale Esszimmerszene. Bis der Mann aus dem Fernseher plötzlich direkt mit den Kindern redet. "Hey Grace, wie geht´s dir? Du lächelst heute ja gar nicht. Was ist los?" Die Tür geht auf und ein Nachzügler schleicht herein, bürstet sich noch schnell die Haare und setzt sich auf den freien Stuhl zu den anderen Kindern in Schuluniform. Im Hintergrund patschende Geräusche auf den Fliesen. Kleine Geschwister, die neugierig hinter dem Regal hervorlinsen. Sie wissen längst, dass sie leise sein müssen. Seit dem Corona-Lockdown und den Schulschließungen im März 2020 gehört diese morgendliche Szene zum neuen "Normal" der Schulkinder im SOS-Kinderdorf in Tema in Ghana.
"Heute reden wir über Wahlen. Wie ihr wisst, wird bei uns demnächst gewählt", dringt es wieder aus dem Fernsehgerät. Es ist Geschichtsstunde für Sechstklässler unter Covid-19-Bedingungen. Präsenzunterricht findet für den Großteil der Kinder auf staatlichen Schulen seit Monaten nicht statt. Für Kinder auf Herman-Gmeiner-Schulen, den Schulen der SOS-Kinderdörfer, gilt das nicht.
Homeschooling in Schuluniform: Struktur geben
"Wir wollen, dass die Kinder einen möglichst normalen Alltag haben, eine Struktur. Deshalb ist es wichtig, dass sie zum Beispiel die Schuluniform tragen. Sie sind hier im Dorf seit März quasi isoliert. Das hat Auswirkungen auf die Psyche. Unsere größte Herausforderung ist es, Normalität und Abwechslung zu schaffen. Deswegen war es auch so wichtig, eine Lösung für die Schulen zu finden", erklärt Eric, der Leiter des SOS-Kinderdorfes in Tema.
Obwohl das Schulgebäude nicht weit entfernt und auf dem Gelände des Kinderdorfes ist, sind die Kinder in Kleingruppen nach Altersstufen in den Familienhäusern organisiert. Direkter Kontakt mit den Lehrern ist verboten. Die Infektionsgefahr wäre zu groß und einen Virusausbruch im Kinderdorf will sich Dorfleiter Eric lieber gar nicht erst vorstellen. Kinder, die nicht im Kinderdorf wohnen und auf die Hermann-Gmeiner-Schule gehen, nehmen von daheim am Unterricht teil. "Manche von den Kindern außerhalb des Kinderdorfes haben kein zuverlässiges Internet. Hier müssen wir improvisieren. Die Eltern holen deshalb immer freitags die Aufgaben für die kommende Woche bei uns ab und reichen die fertigen zur Korrektur bei den Lehrern ein. Die Lehrer nehmen einige Stunden per Video auf, damit die Kinder auch lernen können, wenn das Internet zusammenbricht. Zusätzlich rufen sie die Kinder regelmäßig an. Das ist nicht so ideal wie der Zoom-Unterricht, aber besser als nichts", meint Eric.
"Wir mussten eben improvisieren und lernen"
Aus dem Schulgebäude nebenan dringt ein lautes Stimmen-Potpourri. Es ist als würden die Stimmen miteinander konkurrieren. "Mathilda, sprich mit mir! Bist du da?"- "Habt ihr Fragen?" - "Peter, was ist das auf den Notenlinien?" - "Okay, ich erkläre es noch einmal an der Tafel, passt auf!" - "Hallo, hallo, hört ihr mich?" - "Wozu benötigen wir Energie?". In den Klassenzimmern ist es leer. Ganz am Ende vor der Tafel und einem Laptop sitzen die Lehrer gestikulierend an Schreibtischen und erklären laut, sehr laut, den Unterrichtsstoff. Dann und wann dreht sich einer um, schreibt etwas an die Tafel. Per Zoom und Kamera wird das Schauspiel an die Kinder am anderen Ende übertragen.
Aus Stephen Borsahs Raum ertönt Applaus und Jubel. Immer wieder springt der junge Musiklehrer, den alle nur Sax, wie Saxophon nennen, auf, dirigiert, singt Tonleitern oder drückt eben den künstlichen Applaus-Button bei richtigen Antworten seiner Schüler. Sax ist allein in dem Raum. Selbst die Stühle sind hochgestellt. Aber der Lehrer schafft eine Atmosphäre, als wären die Kinder ganz nah bei ihm. Sein Klassenraum ist seine Bühne. "Wir wollen, dass sich die Kinder fühlen, als wären sie noch im Klassenraum. Deshalb brauchte ich ein paar Spezialeffekte, wie das Klatschen. Die Kids sind verrückt danach und machen oft mit, nur, weil sie den Applaus hören wollen. Musik muss Spaß machen, deshalb habe ich hier viel Energie investiert", sagt Sax. Doch es lief nicht immer wie am Schnürchen. Als der Schullockdown kam und von einem Tag auf den anderen eine Lösung für den Präsenzunterricht hermusste, war Improvisieren angesagt und Lernen.
"Wir sahen die Kinder über Zoom plötzlich nicht mehr und von Zeit zu Zeit kollabierte die Verbindung. Dann wieder vergaßen die Kids auf lautlos zu stellen und es raschelte an allen Ecken und Enden. Andere sprachen, wurden aber nicht gehört, weil sie eben noch auf stumm geschaltet waren. Ein ziemliches Chaos. Aber heute sind wir alle Profis", sagt Sax, er scheint zufrieden. "Aber wir und die Kids wissen auch, dass wir hier sehr privilegiert sind", fügt er an. "Die meisten Kinder in Ghana haben seit Monaten keinen Unterricht."