Die SOS-Kinderdörfer helfen Kindern aus der Ukraine, ihre Kriegstraumata zu verarbeiten. Ein Blick auf Hilfsangebote in der Ukraine und in Polen.
Sie mussten unter Lebensgefahr flüchten und alles zurücklassen. Andere haben in kalten, dunklen Kellern ausgeharrt, während draußen Bomben einschlugen. Einige mussten mitansehen, wie Menschen getötet wurden. Der Krieg in der Ukraine hinterlässt bei den Kindern tiefe seelische Wunden. Die SOS-Kinderdörfer helfen ihnen, nach ihren traumatischen Erlebnissen wieder Halt zu finden. "Psychologische Hilfe wird oft unterschätzt. Aber es ist so wichtig, ein Kind direkt in den ersten Tagen nach psychisch belastenden Erfahrungen sofort zu unterstützen", sagt Serhii Lukashov, Leiter der SOS-Kinderdörfer in der Ukraine.
Psychologischer Beistand – ein fester Baustein der Hilfe
Posttraumatische Belastungsstörungen und Depressionen sind die häufigsten psychischen Störungen bei Kindern, die in Krisenregionen leben. Die Auswirkungen sind vielschichtig: Panik und Angstzustände, Schlafstörungen und wiederkehrenden Albträume, Aufmerksamkeitsdefizite und Hyperaktivitätsstörungen. Extreme Stresssituationen in Kindheit und Jugend hinterlassen oft Traumatisierungen, die bis ins Erwachsenenalter hineinreichen können.
In der Ostukraine brachen bereits 2014 Kämpfe aus - auch in der Region Luhansk, wo Mitarbeiter:innen der SOS-Kinderdörfer Pflegefamilien betreuten und begleiteten. Mit dem Ausbruch des Konflikts wurden psychosoziale Dienste zu einem elementaren Bestandteil der ganzheitlichen Unterstützung für die Familien.
"Das Leben in der Ostukraine war schon seit 2014 schrecklich, aber was wir jetzt erlebt haben, ist etwas ganz anderes."
Wenige Tage vor dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 brachten die SOS-Kinderdörfer dann einige Kinder und ihre Pflegeeltern aufgrund der sich verschärfenden Sicherheitslage in die Westukraine. Nach Beginn der Invasion wurden dann Pflegefamilien ins westliche Ausland evakuiert. "Das Leben in der Ostukraine war schon seit 2014 schrecklich, aber was wir jetzt erlebt haben, ist etwas ganz anderes", sagt Nataliia Herasymenko, die die Begleitung von Pflegefamilien in der Ukraine koordiniert.
Gleichzeitig begannen die SOS-Kinderdörfer in der Ukraine humanitäre Hilfe zu leisten: durch Hilfsgüter, finanzielle Unterstützung für Lebensmittel sowie durch psychologische und psychosoziale Betreuung. Psycholog:innen in mobilen Teams bieten Kindern und Familien auch in abgelegenen Orten Hilfe, um Schock und Kriegstraumata zu verarbeiten. Sie besuchen zudem Schulen, um Kindern und Lehrer:innen zu vermitteln, wie sie mit Angst und der psychischer Belastung besser umgehen können. Hinzukommen Feriencamps für Kinder und ihre Betreuer:innen, die dort bei Freizeitaktivitäten in einem geschützten Umfeld abschalten können und psychosozial begleitet werden. Yevgeniya Rzayeva, Hilfskoordinatorin der SOS-Kinderdörfer, erzählt: "Die Camps boten den Kindern die Möglichkeit, die Natur zu genießen, zu schwimmen und gemeinsam zu spielen. In dieser friedlichen Umgebung organisierten die Psychologen Gruppenaktivitäten, die sich auf die Überwindung des Kriegstraumas konzentrierten."
Seit Kriegsausbruch konnten die SOS-Kinderdörfer in der Ukraine mehr als 273.000 Menschen beistehen. Davon haben wir mehr als 17.000 Kinder und Eltern bislang psychologisch und psychosozial unterstützt. Die SOS-Kinderdörfer in der Ukraine werden ihre Hilfe weiter verstärken. "Die Kinder, die jetzt traumatisiert sind, werden jahrelange Hilfe brauchen. Wir hier in der Ukraine sind bereit, diese Hilfe zu leisten. Wir bleiben hier, trotz Krieg!", sagt Serhii Lukashov, Leiter der SOS-Kinderdörfer in der Ukraine.
TeamUp - Heilung durch Bewegung
Psychologin Aleksandra Sikorska hat das psychosoziale Unterstützungsangebot der SOS-Kinderdörfer in Polen um "TeamUp". Körperliche Aktivität spielt dabei eine große Rolle und hilft bei der Verarbeitung der Traumata. Die Kinder trainieren Jiu-Jitsu und andere Sportarten, die ihnen helfen, ihre Gefühle zu kanalisieren und zu stabilisieren. In Krasnik leitet Barbara Michota Fitnesskurse für Pflegemütter, damit diese sich kennenlernen und Stress abbauen können. Diese von "War Child Holland" entwickelte Methode der Arbeit mit Flüchtlingskindern wurde bereits in Projekten der SOS-Kinderdörfer in Griechenland, Italien und Schweden eingesetzt.
"Durch Bewegungsaktivitäten, die nicht wettkampforientiert sind, trainieren die Kinder ihre psychosozialen Fähigkeiten. Der Gebrauch von Sprache ist minimal, so dass jeder mitmachen kann. TeamUp fördert die Integration in internationalen Gruppen. Kinder, die zunächst zögerlich aufeinander zugehen, werden ermutigt, Kontakte zu knüpfen, wenn sie sehen, dass sie gemeinsam Spaß haben können", sagt Aleksandra Sikorska. "Die Kraft von TeamUp liegt im Humor, in den positiven Emotionen, die andere Teile des Gehirns aktivieren als die, die für Angst, Stress und das Gefühl der Gefahr verantwortlich sind. Darüber hinaus können wir durch die Beobachtung der Kinder während der Sitzungen diejenigen identifizieren, die eine intensivere Betreuung benötigen".
Therapie und medizinische Maßnahmen sind nur ein Teil der MHPSS-Dienste, die angeboten werden. "Wir müssen dafür sorgen, dass die Flüchtlinge das Gefühl haben, selbstbestimmt zu handeln, dass ihnen zugehört wird und dass sie gut informiert sind", erläutert die Psychologin. Der Unterricht mit interkulturellen Trainern ist ein wichtiger Teil der psychologischen Unterstützung. Sie helfen das Grundbedürfnis der ukrainischen Flüchtlinge anzusprechen: das Gefühl, an einem Ort anzukommen, an dem sie jemand versteht.
Hand in Hand zusammenarbeiten
Seit dem Beginn der Invasion arbeiten die SOS-Kinderdörfer in der Ukraine und in Polen bei ihrer Nothilfe eng zusammen. Polen unterstützte bei der Evakuierung, Unterbringung und Versorgung mit dem Nötigsten. Geflüchtete Familien und Kinder aus Heimen fanden Zuflucht in allen vier polnischen SOS-Kinderdörfern.
Nataliia Herasymenko und ihr Kind gehörten zu den Pflegefamilien aus Luhansk, die im SOS-Kinderdorf in Krasnik Unterschlupf fanden. "Wir kamen sehr früh am Morgen an, aber alles war schon vorbereitet: unsere Zimmer, Essen und Kleidung. Alle Mitarbeiter waren schon da, um uns willkommen zu heißen."
"Wir haben versucht, sie so zu betreuen, wie wir selbst betreut werden möchten. Sie sollten sich in jeder Hinsicht sicher fühlen", sagt Barbara Michota, stellvertretende Leiterin des SOS-Kinderdorfs in Krasnik. "Wir wollten sicherstellen, dass die ukrainischen Familien Tag und Nacht jemanden haben, zu dem sie kommen können. Wir hören uns die Geschichten an: Jemandes Ehemann war noch in der Ukraine, jemand anderes weinte jedes Mal, wenn er eine Katze sah, weil seine eigene unter den Trümmern starb." Sie ist sicher: " Die Beziehungen, die bei diesen emotionalen Gesprächen entstehen, werden ein Leben lang halten".
Das Leben zurückgewinnen
Die SOS-Kinderdörfer in Polen arbeiten am Aufbau eines Netzwerkes von Zentren für psychische Gesundheit für ukrainische Flüchtlinge, in denen sie Zugang zu psychologischer und psychiatrischer Betreuung, Rehabilitation und Therapie in ihrer Sprache bekommen. Das erste Zentrum in der Nähe von Warschau soll bis Ende 2022 eröffnet werden.
Die ukrainischen Flüchtlinge warten auf das Ende des Krieges, damit sie ihr Leben zurückgewinnen und die Traumata des Krieges in ihrer Heimat überwinden können. "In Krasnik ist alles schön und gut organisiert. Wir durchleben Höhen und Tiefen, unterstützt von Menschen, denen wir uns bereits sehr nahe fühlen. Trotzdem wird mir jedes Mal, wenn ich an den Moment zurückdenke, an dem ich die Ukraine verlassen habe, bewusst, wie sehr ich mein Land vermisse. Wir alle warten auf den Moment, in dem es sicher ist zurückzukehren. Wir alle wollen zu Hause sein, umgeben von den Menschen, die wir lieben, und in vollen Zügen wieder leben“, so der Traum von Nataliia Herasymenko.
Autorin: Sofia Delgado