Das Trauma des Krieges überwinden

Ukraine: Mentale Gesundheit für Geflüchtete

Die SOS-Kinderdörfer helfen Kindern aus der Ukraine, ihre Kriegstraumata zu verarbeiten. Ein Blick auf Hilfsangebote in der Ukraine und in Polen.

Posttraumatische Belastungsstörungen und Depressionen sind die häufigsten psychischen Störungen bei Kindern, die in Krisenregionen aufwachsen. Die Auswirkungen sind vielschichtig: akute Stressreaktionen, Aufmerksamkeitsdefizite, Hyperaktivitätsstörungen, Panik, Angstzustände und Schlafstörungen. Viele dieser Kinder haben schlimme Situationen miterlebt; sie mussten innerhalb kürzester Zeit fliehen und alles zurücklassen, haben in kalten, dunklen Kellern bei schlechter Versorgung ausgeharrt und Bombenangriffe überlebt. Einige mussten mit ansehen, wie Menschen getötet wurden. Diese extremen Stresssituationen in Kindheit und Jugend führen zu wiederkehrenden Albträumen und hinterlassen oft Traumatisierungen, die bis ins Erwachsenenalter hineinreichen können.

Das Leben in der Ostukraine war schon seit 2014 schrecklich, aber was wir in den letzten sechs Monaten erlebt haben, ist etwas ganz anderes.

Nataliia Herasymenko

Psychologischer Beistand – ein fester Baustein der Hilfe

Psychosoziale Unterstützung - englisch: "Mental Health and Psychosocial Support (MHPSS)" - ist ein fester Baustein in der Arbeit der SOS-Kinderdörfer. Bereits seit 2012 unterstützen und begleiten in der Ukraine Mitarbeiter:innen der SOS-Kinderdörfer Pflegefamilien in der Region Luhansk. Seit dem Ausbruch der Konflikte in der Donbass-Region in 2014 sind dort psychosoziale Dienste ein wichtiger Bestandteil der ganzheitlichen Unterstützung für Familien.

Schon Mitte Februar 2022 zogen einige der Kinder und ihre Pflegeeltern aus Sicherheitsgründen in die Westukraine. Mit Beginn der Invasion wurden Pflegefamilien ins Ausland evakuiert. "Das Leben in der Ostukraine war schon seit 2014 schrecklich, aber was wir in den letzten sechs Monaten erlebt haben, ist etwas ganz anderes", sagt Nataliia Herasymenko, die die Begleitung von Pflegefamilien in der Ukraine koordiniert.

Durch den Krieg ist der Bedarf für psychosoziale Unterstützung weiter stark angestiegen. Allein in den vergangenen Monaten haben mobile Teams der SOS-Kinderdörfer mehr als 2.000 Menschen in verschiedenen Teilen des Landes psychologisch unterstützt. Geschulte Mitarbeiter:innen vermittelten den Betroffenen Techniken, um besser mit psychischem Stress, Angst und Unruhe umgehen zu können. Weitere 2.000 Kinder nahmen an therapeutischen Camps teil. Yevgeniya Rzayeva, Hilfskoordinatorin der SOS-Kinderdörfer, erzählt: "Die Camps boten den Kindern die Möglichkeit, die Natur zu genießen, zu schwimmen und gemeinsam zu spielen. In dieser friedlichen Umgebung organisierten die Psychologen Gruppenaktivitäten, die sich auf die Überwindung des Kriegstraumas konzentrierten."

In den vergangenen sechs Monaten haben die SOS-Kinderdörfer ihre Hilfe im Land weiter ausgebaut. Über 7.000 geflüchtete Kinder und Familien konnten in Einrichtungen in der West- und in der Zentralukraine betreut, beraten und individuell unterstützt werden. Bis zum August dieses Jahres erreichten verschiedenste Hilfsmaßnahmen, auch in Zusammenarbeit mit lokalen Partnerorganisationen, über 106.000 Menschen.

Bei Spielaktionen knüpfen Kinder schnell neue Freundschaften und gewinnen Lebensfreude zurück. Foto: Katerina Ilievska

TeamUp - Heilung durch Bewegung

Psychologin Aleksandra Sikorska erweitert derzeit das MHPSS-Angebot in Polen um "TeamUp". Körperliche Aktivität spielt dabei eine große Rolle und hilft bei der Verarbeitung der Traumata. Die Kinder trainieren Jiu-Jitsu und andere Sportarten, die ihnen helfen, ihre Gefühle zu kanalisieren und zu stabilisieren. In Krasnik leitet Barbara Michota Fitnesskurse für Pflegemütter, damit diese sich kennenlernen und Stress abbauen können.  Diese von "War Child Holland" entwickelte Methode der Arbeit mit Flüchtlingskindern wurde bereits in Projekten der SOS-Kinderdörfer in Griechenland, Italien und Schweden eingesetzt.

"Durch Bewegungsaktivitäten, die nicht wettkampforientiert sind, trainieren die Kinder ihre psychosozialen Fähigkeiten. Der Gebrauch von Sprache ist minimal, so dass jeder mitmachen kann. TeamUp fördert die Integration in internationalen Gruppen. Kinder, die zunächst zögerlich aufeinander zugehen, werden ermutigt, Kontakte zu knüpfen, wenn sie sehen, dass sie gemeinsam Spaß haben können", sagt Aleksandra Sikorska. "Die Kraft von TeamUp liegt im Humor, in den positiven Emotionen, die andere Teile des Gehirns aktivieren als die, die für Angst, Stress und das Gefühl der Gefahr verantwortlich sind. Darüber hinaus können wir durch die Beobachtung der Kinder während der Sitzungen diejenigen identifizieren, die eine intensivere Betreuung benötigen".

Beim Sport ltrainieren die Kinder auch ihre psychosozialen Fähigkeiten. Foto: Katerina Ilievska

Therapie und medizinische Maßnahmen sind nur ein Teil der MHPSS-Dienste, die angeboten werden. "Wir müssen dafür sorgen, dass die Flüchtlinge das Gefühl haben, selbstbestimmt zu handeln, dass ihnen zugehört wird und dass sie gut informiert sind", erläutert die Psychologin. Der Unterricht mit interkulturellen Trainern ist ein wichtiger Teil der psychologischen Unterstützung. Sie helfen das Grundbedürfnis der ukrainischen Flüchtlinge anzusprechen: das Gefühl, an einem Ort anzukommen, an dem sie jemand versteht.

Hand in Hand zusammenarbeiten

Seit dem Beginn der Invasion arbeiten die SOS-Kinderdörfer in der Ukraine und in Polen bei ihrer Nothilfe eng zusammen. Polen unterstützte bei der Evakuierung, Unterbringung und Versorgung mit dem Nötigsten. Geflüchtete Familien und Kinder aus Heimen fanden Zuflucht in allen vier polnischen SOS-Kinderdörfern.

Nataliia Herasymenko und ihr Kind gehörten zu den Pflegefamilien aus Luhansk, die im SOS-Kinderdorf in Krasnik Unterschlupf fanden. "Wir kamen sehr früh am Morgen an, aber alles war schon vorbereitet: unsere Zimmer, Essen und Kleidung. Alle Mitarbeiter waren schon da, um uns willkommen zu heißen."

Geborgenheit und verschiedene Aktivitäten geben den geflüchteten Kindern Sicherheit. Foto: Katerina Ilievska

"Wir haben versucht, sie so zu betreuen, wie wir selbst betreut werden möchten. Sie sollten sich in jeder Hinsicht sicher fühlen", sagt Barbara Michota, stellvertretende Leiterin des SOS-Kinderdorfs in Krasnik. "Wir wollten sicherstellen, dass die ukrainischen Familien Tag und Nacht jemanden haben, zu dem sie kommen können. Wir hören uns die Geschichten an: Jemandes Ehemann war noch in der Ukraine, jemand anderes weinte jedes Mal, wenn er eine Katze sah, weil seine eigene unter den Trümmern starb." Sie ist sicher: " Die Beziehungen, die bei diesen emotionalen Gesprächen entstehen, werden ein Leben lang halten".

Das Leben zurückgewinnen

Die SOS-Kinderdörfer in Polen arbeiten am Aufbau eines Netzwerkes von Zentren für psychische Gesundheit für ukrainische Flüchtlinge, in denen sie Zugang zu psychologischer und psychiatrischer Betreuung, Rehabilitation und Therapie in ihrer Sprache bekommen. Das erste Zentrum in der Nähe von Warschau soll bis Ende 2022 eröffnet werden.

Die ukrainischen Flüchtlinge warten auf das Ende des Krieges, damit sie ihr Leben zurückgewinnen und die Traumata des Krieges in ihrer Heimat überwinden können. "In Krasnik ist alles schön und gut organisiert. Wir durchleben Höhen und Tiefen, unterstützt von Menschen, denen wir uns bereits sehr nahe fühlen. Trotzdem wird mir jedes Mal, wenn ich an den Moment zurückdenke, an dem ich die Ukraine verlassen habe, bewusst, wie sehr ich mein Land vermisse. Wir alle warten auf den Moment, in dem es sicher ist zurückzukehren. Wir alle wollen zu Hause sein, umgeben von den Menschen, die wir lieben, und in vollen Zügen wieder leben“, so der Traum von Nataliia Herasymenko.

 

Autorin: Sofia Delgado

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