"Das Trauma des Erdbebens hinterlässt tiefe Spuren"

SOS-krisenchat bietet jungen Menschen psychosoziale Beratung via Smartphone – nach dem Erdbeben jetzt auch in türkischer Sprache: Liana Georgiewa, Psychologin bei krisenchat, im Interview.

Wie haben Sie so schnell nach dem Erdbeben das psychosoziale Hilfsangebot auch in türkischer Sprache auf die Beine stellen können, und was sind die besonderen Herausforderungen?

Liana Georgiewa, Senior Psychologist und Co-Projektleitung für türkische Beratung bei krisenchat – Foto: krisenchat

Das Ausmaß des Erdbebens ist unvorstellbar - es ist ein kollektives Trauma, das tiefe Spuren in der Türkei, aber auch in Syrien hinterlässt und die ganze Welt bewegt.
Es ist uns bei krisenchat ein Bedürfnis so vielen Menschen wie möglich helfen, indem wir ihnen ein offenes Ohr bieten und genau in solchen Krisen beratend zur Verfügung stehen.
Sowohl Management, als auch das Team und Freiwillige kamen unglaublich schnell zusammen, um unser Angebot für die Menschen aus der Erdbebenregion, die zu uns nach Deutschland flüchten, zugänglich zu machen. Im Moment ist es uns möglich Beratung auf Türkisch, montags bis freitags, von 18-20 Uhr, anzubieten und richten uns dabei an Menschen, die bereits in Deutschland sind, da wir den Bedarf in der Türkei und in Syrien - noch - nicht decken können.

Was sind Ihre Erfahrungen mit jungen Menschen in Deutschland, die durch die Ereignisse in ihrer Heimat stark belastet sind und vielleicht Familienmitglieder verloren, wie kann ihnen von krisenchat geholfen werden? Wie sieht hier eine Beratungsstrategie aus? Was raten Sie den Kindern und Jugendlichen?

Millionen von Menschen sind in der Türkei und in Syrien von den Konsequenzen dieser Katastrophe betroffen. Laut dem statistischen Bundesamt lebten 2021 etwa 2,7 Millionen Menschen mit türkischen oder kurdischen Wurzeln in Deutschland und stellen somit die größte Gruppe von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland dar. Aufgrund des Bürgerkrieges in Syrien sind etwa 800.000 Syrer:innen nun in Deutschland zu Hause. Viele unserer Mitbürger:innen sind also von den Auswirkungen der Erdbeben betroffen - sie haben vielleicht jemanden dadurch verloren und/oder möchten ihren Angehörigen jetzt helfen. Das ist eine sehr schwierige Situation und bringt viele Emotionen hervor. Insbesondere für die Kinder und Jugendliche, die nun aus ihrer gewohnten Umgebung flüchten müssen, kann es sehr schwer sein, diese Gefühle von Überforderung, Trauer, Schock oder auch Wut zu verarbeiten. Zur gesunden Integration eines traumatischen Erlebnisses in die eigene Lebensgeschichte ist u. a. die soziale Einbettung besonders wichtig. Kinder müssen spüren, dass sie nicht alleine sind. Wir möchten ihnen Raum geben, in ihrer eigenen Sprache über ihre Erlebnisse und Gefühle sprechen zu können, und ihnen dabei helfen, eine langfristige Lösung zu finden.

Erzählen Sie uns bitte etwas über Ihren Werdegang und Ihre persönliche Motivation.

Ich bin als klinische Psychologin seit Januar 2021 bei krisenchat tätig, zuerst im Marketingbereich und dann beim Aufbau von SOS-krisenchat Ukraine. Mit der Türkei fühle ich mich tief verbunden, da ich dort als Aktivistin für Menschenrechte, insbesondere für LGBTQIA*, sehr aktiv bin und seit einigen Jahren viel Zeit in Istanbul verbringe. SOS-krisenchat Ukraine liegt mir dabei genauso am Herzen wie eine Krisenberatung auf Türkisch, weil die Kinder und Jugendlichen solch starken Belastungen ausgesetzt sind. Mir ist es ein großes Anliegen, unser Angebot für so viele Menschen wie möglich zugänglich zu machen, da ich mich auf vielen Ebenen im Leben für soziale Gerechtigkeit und die Verbesserung mentaler Gesundheit für Menschen einsetze. Krisenchat kann meiner Meinung nach ein wichtiger Teil von Integration von geflüchteten Kindern und Jugendlichen in Deutschland sein, da das Angebot so leicht zugänglich ist.

Sie haben ja auch eine ganz persönliche Beziehung zur Türkei, wie kam es dazu?

Tatsächlich bin ich während meines Masterstudiums eines Tages los mit dem Fahrrad, einfach so. Es war eine spontane Reise, die mich zufällig in die Türkei führte. Als dann wegen Corona meine Unikurse online angeboten wurde, blieb ich da. Meinen Master schloss ich also remote ab, während die Türkei zu meinem zweiten Zuhause wurde.

Wie schätzen Sie den Stellenwert von mentaler Gesundheit bei der türkischen Bevölkerung ein?  Gibt es hier große Unterschiede zwischen den Metropolen, und den ländlichen Gebieten?

Alle Menschen in der Türkei sind wahnsinnig mitgenommen von den Geschehnissen und das Angebot bezüglich mentaler Gesundheit ist mehr als mangelhaft  - selbst in Metropolen wie Istanbul. Therapie ist teuer und ein Angebot wie krisenchat gibt es dort nicht. Marginalisierte Gruppen wie z. B. kurdische Menschen, Geflüchtete oder LGBTQIA* gehen dabei besonders unter, gerade in den Erdbebenregionen. Für umso wichtiger halte ich unser Angebot und hoffe darauf, dass wir damit zu internationaler Solidarität beitragen.

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