Wie die Klimakrise Millionen Menschen zur Flucht zwingt

Der Klimawandel sorgt dafür, dass immer mehr Menschen ihre Heimat verlassen müssen.

Dr. Kira Vinke arbeitet als Projektleiterin am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Seit Jahren forscht sie daran, wie der Klimawandel sich auf Menschen auf der ganzen Welt auswirkt. Ihr Spezialgebiet: Migration und Flucht aufgrund von Klimaveränderungen. Sie hat unter anderem mit Bauern und Bäuerinnen in Bangladesch, Menschen auf den Marschallinseln, die vom Fischfang leben, gesprochen.

SOS-Kinderdörfer: Laut einer Studie, die auch der Weltklimarat zitiert, könnte es 2050 weltweit 200 Millionen Klimaflüchtlinge geben. Wie schätzen Sie diese Zahl ein und warum werden so viele Menschen fliehen?

Für ihre Forschung sprach Kira Vinke u.a. mit Menschen in Bangladesh. Foto: privat

Vinke: Die Studie ist schon etwas älter und teils wegen einer unausgereiften Methodik umstritten. Es gibt eine kürzlich erschienene Weltbank-Studie, die in einem pessimistischen Szenario bis 2050 von etwa 140 Millionen Binnenvertriebenen in Subsahara-Afrika, Südasien und Südamerika ausgeht. Wenn man bedenkt, dass noch einige Weltregionen fehlen, sind die 200 Millionen von der Größenordnung her möglicherweise gar nicht so weit von der Realität entfernt.

Es gibt keine grundsätzliche Definition eines Klimamigranten. Aber wir sehen, dass der Migrationsdruck zunimmt – und dahinter steht oft auch ein sehr großer persönlicher Leidensdruck. Das ist unabhängig von allgemeinen Anziehungsfaktoren für Migration wie die Aussicht auf ein besseres Leben oder die Aussicht auf Sicherheit. Ob diese Migration vollzogen werden kann und über welche Distanzen, hängt von vielen Umständen ab.

Etwa davon, wie viel Geld mir als Migrant zur Verfügung steht. Oder: Bin ich körperlich in der Lage zu migrieren? Was sind meine sozialen Umstände? Bin ich frei? Zum Beispiel ist es für Frauen schwieriger, allein zu migrieren, weil sie oft sexueller Gewalt ausgesetzt sind, während es jungen Männern in vielen Gesellschaften eher möglich ist. Und natürlich geht es auch um Grenzpolitik, wenn nationale Grenzen überwunden werden müssen. Wenn der Migrationsdruck wächst, steigt das Leid an den Außengrenzen.

Da ist nun die Frage, wie wir darauf reagieren. Versuchen wir, diesen Migrationsdruck zu mindern? Nicht jeder möchte sein eigenes Zuhause verlassen; das ist nur eine Minderheit. Aber wenn ich vor die Wahl gestellt bin, mein Kind an Hunger sterben zu sehen oder mein Zuhause zu verlassen – dann entschließt sich wahrscheinlich die Mehrheit für Letzteres.

Wir sehen, dass der Migrationsdruck zunimmt – und dahinter steht oft auch ein sehr großer persönlicher Leidensdruck.

Kira Vinke, Potsdam-Institut für klimafolgenforschung

Wenn Sie sagen, es gibt einen internen Migrationsdruck, reden Sie dann von Binnenflucht, also dass diese Menschen tatsächlich im eigenen Land woanders Zuflucht suchen?

Genau. Momentan beobachten wir, dass die Menschen, die aufgrund von Klimafolgen migrieren müssen, dies vor allem innerhalb ihrer Länder tun. Und das passiert aus den folgenden Gründen: Erstens können sie gar nicht so weit migrieren, weil ihnen die Voraussetzungen dafür fehlen. Zweitens möchten sie in ihrem Kulturkreis bleiben und ihre eigene Sprache sprechen. Eventuell wollen sie später in ihre Heimat zurückkehren. Der dritte Grund ist: Es gibt Grenzregime, die man nicht so einfach überwinden kann. Aber die anderen Punkte sind aus meiner Sicht schwerwiegender. Man sollte in Betracht ziehen, wer von diesen Naturkatastrophen hauptsächlich betroffen ist. Das sind vor allem Subsistenzbauern ohne finanzielle Reserven, die keinerlei Anpassungsmöglichkeiten haben. Dann die Fischer – also alle Menschen, deren Lebensgrundlagen direkt mit Ökosystemen verbunden sind. Sie stehen sozusagen in der ersten Reihe, aber ihre Mobilität ist oft eingeschränkt.

Wenn ich vor die Wahl gestellt bin, mein Kind an Hunger sterben zu sehen oder mein Zuhause zu verlassen – dann entschließt sich wahrscheinlich die Mehrheit für Letzteres.

KIRA VINKE, POTSDAM-INSTITUT FÜR KLIMAFOLGENFORSCHUNG

Es sind also vor allem Menschen, die wahrscheinlich schon am Existenzminimum leben oder die einfach jetzt schon Schwierigkeiten haben – teilweise klimabedingt, teilweise ökonomisch bedingt – ein gutes Leben zu führen?

Ja, das sind marginalisierte Gruppen. Und da zeigt sich auch eine doppelte Ungerechtigkeit. So viele Menschen wurden von der globalisierten Industrialisierung und von deren Wohlstanderzeugung ausgeschlossen. Sie sind vielleicht Teil der Produktionskette, beispielsweise eine Näherin in Bangladesch, aber sie erzielen daraus keinen Gewinn. Die zweite Ungerechtigkeit ist nun, dass genau diese benachteiligten Menschen Opfer des Klimawandels werden, den sie nicht oder nur zu einem sehr geringen Teil mit verursachen.

Sie haben schon mit vielen dieser Menschen gesprochen, die die Folgen des Klimawandels schon am eigenen Leib spüren…

Für meine Feldforschungen war ich in verschiedenen Teilen der Erde: in Bangladesch in Asien, auf den Marshallinseln im Pazifik, in Burkina Faso in Afrika. Dort sieht man überall ein ähnliches Bild. Natürlich gibt es ganz unterschiedliche Klimafolgen und ganz unterschiedliche gesellschaftliche Kontexte. Aber die Menschen schildern alle, dass sich die Umwelt rasant verändert hat. Sie haben dafür oft keine Erklärung, weil ihnen der Zugang zu Bildung verwehrt bleibt. Sie stehen vor der Wahl, unter immer schlechter werdenden Bedingungen zu bleiben oder zu gehen. Sie haben kaum die Möglichkeit, selber aktiv etwas zu verbessern, weil die globalen Strukturen ihren persönlichen Handlungsspielraum begrenzen. Es ist eine sehr ernüchternde Einsicht, dass unsere eigene, oft komfortable Lebensart die freie Entfaltung anderer Menschen in weitentfernten Gebieten – zum Teil zeitlich versetzt – verschlechtert oder ganz untergräbt. Das ist ein großes ethisches Problem.

Wie können Klima- und Entwicklungsprogramme aufgebaut sein, sodass sie nachhaltig wirken und nicht nur den Industrieländern vorbehalten sind?

Ich denke, es sollte stark in die kommunale Ebene investiert werden. Die Projekte sollten an den lokalen Kontext angepasst und von lokalen Experten begleitet und ausgeführt werden. Bei unseren Feldforschungen haben wir gesehen, dass die Menschen, die besonders betroffen sind, oft kaum oder keine Unterstützung von ihrem eigenen Staat bekommen. Das muss man auch im Blick haben, wenn man über die internationalen Klimaschutzverhandlungen nachdenkt, es sind letztlich Verhandlungen zwischen politischen Eliten. So stellt sich die Frage: Haben die politischen Eliten immer das Gesamtinteresse der Bevölkerung im Auge oder vor allem das ihrer eigenen Wählerschaft? Das ist auch in Deutschland ein Problem, aber zumindest ist unsere Regierung demokratisch gewählt. Doch wir verhandeln auch mit autoritär regierten Ländern, und deren Stimmen zählen in der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen genauso wie unsere. Ob diese Regierungen im Interesse ihrer Bevölkerung – auch ihrer verarmten Landbevölkerung – sprechen und handeln, kann man zumindest in Frage stellen. Auch deswegen ist es wichtig, Wege zu finden, um Menschen zu erreichen, die in großer Not sind und von ihrer eigenen Regierung ignoriert werden. Allerdings muss diese Vernachlässigung nicht immer mutwillig sein; viele Regierungen haben gar nicht die finanziellen Kapazitäten.

Man muss beides machen, Umweltschutz und entwicklungspolitische Maßnahmen. Ein Kerninteresse des Umweltschutzes ist es, dem Menschen zu helfen und die natürlichen Lebensgrundlagen auch für zukünftige Generationen zu erhalten. 

KIRA VINKE, POTSDAM-INSTITUT FÜR KLIMAFOLGENFORSCHUNG

Welche Projekte können sowohl die Not und die Armut der Menschen lindern, aber auch Flucht verhindern?

Ein Beispiel ist sicher die Wiederaufforstungstechnik Farmer Managed Natural Regeneration (FMNR). Diese Form der Wiederbewaldung wird unter anderem in der Sahelzone praktiziert. Sie beruht allerdings nicht auf dem Pflanzen von Bäumen, sondern auf dem “In-Ruhe-lassen” von Land. Bestimmte Landflächen werden abgegrenzt, dort bilden sich dann auf natürliche Art wieder kleine Büsche aus den in der Erde liegenden Wurzeln. Diese werden normalerweise von Ziegen abgefressen oder zum Feuermachen geerntet. Das kann man vermeiden, indem man sich als Gemeinschaft entschließt, eine Landfläche zu schützen, und versucht, die Büsche so zu trimmen, dass sich Äste und letztendlich junge Bäume entwickeln. Ein Baum bringt viele Vorteile: Er spendet Schatten für das Wachstum anderer Pflanzen, und gleichzeitig kann die Wiederbewaldung den Wasserkreislauf unterstützen. Das puffert lokal die Erwärmung etwas ab, und zum anderen bilden sich natürliche CO2-Senken, weil Bäume CO2 aus der Atmosphäre ziehen. Die Schwierigkeit bei solchen Projekten ist der Abstimmungsprozess innerhalb der Gemeinschaft, denn es dauert relativ lange, bis ein Baum wächst. Aber sobald diese Bäume entstehen, kann man auch Teile von ihnen ernten. Es ist wünschenswert, diese Phase auch durch andere entwicklungspolitische Maßnahmen zu unterstützen, damit zum Beispiel kein Feuerholz zum Kochen verbraucht werden muss.

Radikal wäre es aus Umweltsicht, einfach alles die Natur machen zu lassen. Dann leiden aber noch mehr Menschen. Wie geht man damit um?

Hier geht es um Ausgleiche. Wie kann ich einen Interessensausgleich schaffen? Das sollte gemeinschaftlich mit lokalen Akteuren durchgeführt werden, gerade bei großen Naturschutzprojekten. Denn es gibt ja auch viele problematische Beispiele. Als ich in Bangladesch war, haben Menschen zu mir gesagt: „Hier ist ein riesiges Tierschutzprojekt. Warum schützt ihr Tiger und helft uns nicht?“ Das kann nur dadurch beantwortet werden, dass beides gemacht wird, Umweltschutz und entwicklungspolitische Maßnahmen. Ein Kerninteresse des Umweltschutzes ist es, dem Menschen zu helfen und die natürlichen Lebensgrundlagen auch für zukünftige Generationen zu erhalten. Klar ist, der Mensch ist ein Teil der Natur und wir können nicht andere Arten einfach nach unserem Gusto auslöschen ohne weitreichende Konsequenzen hervorzurufen, die uns schließlich selbst betreffen werden.

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