Meryems kleine Welt

Eben geboren, ließ ihre Mutter sie zurück – in einem Krankenhaus in Casablanca, Marokko. Mit Hilfe des SOS-Kinderdorfs Dar Bouazza ging Meryem dennoch ihren Weg.

Von Julia Dreier


Jedem Kind gerecht werden: In den fünf marokkanischen SOS-Kinderdörfern wachsen knapp 500 Mädchen und Jungen auf. Foto: Julia Dreier

Die junge Frau hatte ihr Baby kaum geboren, da floh sie schon aus dem Krankenhaus. Allein. Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. Vor allem ledige Mütter verlassen in Marokko ihre Kinder häufig aus Angst, selbst verstoßen zu werden.

Zurück blieb Meryem*, ihr kleines Mädchen. Eine Frau nahm sich ihrer an und zog sie auf, bis sie neun Jahre alt war. Aber dann wurde die Frau schwer krank und schaffte es kaum noch, für Meryem zu sorgen. So brachte sie das Mädchen eines Tages zurück in das Krankenhaus, aus dem sie es einst mitgenommen hatte. Meryem war zum zweiten Mal verlassen worden.

Ein Sozialarbeiter wurde schließlich auf das Mädchen aufmerksam und brachte es ins SOS-Kinderdorf Dar Bouazza, nicht weit von Marokkos Hauptstadt Rabat entfernt. Meryem wurde von ihrer Kinderdorf-Mutter begrüßt und lernte ihre Geschwister kennen. Und zum ersten Mal in ihrem Leben durfte sie in die Schule gehen. Für das schüchterne Mädchen war dies so besonders und wertvoll, dass sie mit Feuereifer lernte. In kurzer Zeit holte sie all den Stoff nach, bald schon gehörte sie zu den Klassenbesten.

Ein außergewöhnlicher Berufswunsch für eine junge Frau in Marokko


Einfach Kind sein: Mädchen im SOS-Kinderdorf Dar Bouazza. Foto: Julia Dreier

Im SOS-Kinderdorf gewann sie an Sicherheit und war hier bald zuhause und geborgen. Das Leben fühlte sich jetzt ganz anders an. Meryem hatte eine Familie, zu der sie gehörte, sie wurde unterstützt und ermutigt. Als Meryem älter wurde und ihren Berufswunsch vortrug, wurde auch dies gefördert: Sie wollte Elektrotechnikerin werden; für eine junge Frau in Marokko ein außergewöhnlicher Beruf!

Es gehört zum Konzept der SOS-Kinderdörfer, die Sitten und Gebräuche eines Landes zu respektieren. Gleichzeitig legt man Wert darauf, jedem einzelnen Kind gerecht zu werden und auch den Mädchen zu ermöglichen, ihren eigenen Weg zu gehen. Manchmal, wie in Meryem Beispiel, ist man damit Vorreiter.

Schritt für Schritt

Mit Unterstützung ihres Kinderdorfs begann Meryem ihre Lehre. Aus der Kinderdorf-Familie zog sie in die SOS-Jugendeinrichtung, wo sie mit anderen Mädchen zusammen lebte, Sozialarbeiter halfen ihnen dabei, diese erste Selbständigkeit gut zu bewältigen.

Inzwischen ist Meryem 21 Jahre alt, fast fertig mit ihrer Ausbildung und lebt in ihrer eigenen kleinen Wohnung, auch das ist ungewöhnlich: Üblicherweise bleiben Mädchen in Marokko in der Obhut ihrer Eltern, bis sie irgendwann heiraten – und in die Obhut ihres Ehemannes übergehen. Meryem ist glücklich über ihre eigene kleine Welt und über das Vertrauen, das ihre Kinderdorf-Familie ihr entgegenbringt. Es fühlt sich richtig für sie an, Schritt für Schritt ihr eigenes Leben aufzubauen. Genauso selbstverständlich wird das SOS-Kinderdorf Dar Bouazza immer ihr Zuhause bleiben. Wenn sie zu Besuch kommt, können es ihre jüngeren Geschwister kaum erwarten, mit ihr zu toben. Und ihre Kinderdorf-Mutter hat ein großes Lächeln für Meryem und eine lange Umarmung. Sie liebt es zuzuhören, wenn Meryem aus ihrem Leben erzählt. So, wie Mütter das eben tun, wenn ihre Töchter auf Heimatbesuche kommen!

* Name geändert

 

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