In Folge der Corona-Krise steigt die weltweite Armut zum ersten Mal seit 30 Jahren wieder an. Mindestens 60 Millionen Kinder und Erwachsene könnten nach Angaben der Hilfsorganisation SOS-Kinderdörfer in extreme Armut abrutschen.
"Das sind noch konservative Prognosen", sagt Shubha Murthi, Leiterin der SOS-Kinderdörfer in Asien. Zahlreiche Erfolge in der Armutsbekämpfung und der Entwicklungszusammenarbeit würden zunichtegemacht. Das Ziel der Vereinten Nationen, die Armut bis 2030 zu beenden, rücke in weite Ferne.
Bereits in den ersten Monaten nach Ausbruch von COVID-19 waren laut Internationaler Arbeitsorganisation (ILO) 1,6 Milliarden Menschen im informellen Sektor existenziell bedroht. In einem Land wie Indien, wo über 80 Prozent der Menschen von Gelegenheitsjobs leben, sei zu befürchten, dass die Arbeitslosigkeit von 7,6 Prozent auf 35 Prozent hochschnelle. "In den Armenvierteln hat fast niemand mehr ein Einkommen. Millionen Familien wissen derzeit nicht, wie sie ihre Kinder ernähren sollen", sagt Murthi.
Besonders problematisch sei, dass ein Großteil der Länder weltweit über kein funktionierendes Sozialsystem verfüge. Gerieten Familien in Armut, habe das weitreichende Konsequenzen: "Kinder leiden an Hunger und Unterernährung, Krankheiten nehmen zu, viele Jungen und Mädchen müssen ihre Bildung abbrechen. Das ist besonders tragisch, da sie damit die wichtigste Chance verlieren, sich aus dem Kreislauf der Armut zu befreien", sagt Murthi. Gehe die Schere zwischen Reich und Arm weiter auseinander, würden auch die sozialen Unruhen anwachsen. "In Indien beispielsweise kam es auch vor Corona immer wieder zu Protesten. Wenn wir hier keine wirkungsvollen Lösungen finden, drohen sie zu eskalieren."
Oberste Priorität müsse jetzt sein, die Menschen mit Nahrungsmitteln zu unterstützen und ihr Überleben zu sichern. Weltweit müssten tragfähige soziale Netzwerke aufgebaut werden. "Jeder Mensch hat ein Recht auf Ernährung, Schutz, Bildung und Gesundheit – es ist Aufgabe der Staaten, dies sicherzustellen", sagt Murthi.