21. März 2024 | NEWS

"Die Kinder wussten: Wenn wir sagen: 'Es geht los!', dann geht es los"

Inmitten des Gaza-Krieges ist es den SOS-Kinderdörfern gelungen, 68 Kinder, Mitarbeitende und ihre Familien aus dem SOS-Kinderdorf Rafah zu evakuieren. Maßgeblich beteiligt war das deutsche Außenministerium. Im Interview spricht Samy Ajjour, Leiter des SOS-Kinderdorfs Rafah, über die Evakuierung und die Situation der Kinder.

Samy Ajjour, als Leiter des SOS-Kinderdorfs Rafah haben Sie fünf Monate Krieg, Angst, Sorge und Vertreibung hinter sich. Jetzt wurden 68 Kinder sowie Mitarbeitende und ihre Familien erfolgreich nach Bethlehem evakuiert. Sind Sie erleichtert? 

Samy Ajjour, Leiter des SOS-Kinderdorfs Rafah. Das Foto ist eine Archivaufnahme. Foto: Katharina Ebel

Wir sind alle froh und glücklich. Wir sind hier in Bethlehem von den Kolleginnen und Kollegen und dem gesamten SOS-Kinderdorf herzlich empfangen worden, wir sind an einem einigermaßen sicheren Ort, können schlafen ohne das Geräusch von Bomben. Es geht uns besser. Aber die Kinder brauchen Zeit, anzukommen. Sie haben ihre Heimat verlassen und fühlen sich noch fremd.

Waren die Kinder vorher schon mal außerhalb Gazas? 

Nein, noch nie. Sie sind zum ersten Mal in ihrem Leben in einen Bus gestiegen, hatten zum ersten Mal einen Pass in der Hand und haben zum ersten Mal in einem Hotel übernachtet. Jetzt müssen sie zunächst verstehen, wo sie gelandet sind.

Um die Evakuierung nicht zu gefährden, wurde sie lange Zeit geheim gehalten. Hatten die Kinder überhaupt die Möglichkeit, sich vorzubereiten? 

Wir haben sie Schritt für Schritt eingeweiht. Sie wussten etwa einen Monat zuvor, dass eine Ausreise geplant ist, aber keine Details. Es gab Gespräche mit den Psycholog:innen. Die Kinder wussten: Wenn wir sagen: "Es geht los!", dann geht es los. Einige Zeit vor der Evakuierung haben wir dann begonnen, unsere Taschen zu packen - sehr ruhig und so unauffällig wie möglich. 

Wie war dann der Moment, als sie tatsächlich losfuhren? 

Aufregend, es waren viele Emotionen im Spiel. Da war Euphorie und Freude, aber es flossen auch Tränen. Es ist nicht leicht, sein Heimatland zu verlassen, auch nicht für die Mitarbeitenden und Betreuerinnen. Aber, es hat alles funktioniert und wir haben die Kinder gut auffangen können. Es war sehr hilfreich, dass sie gemeinsam mit ihren Freunden und ihren vertrauten Betreuerinnen auf der Reise waren, und dass sie psychologisch begleitet wurden.

Wie geht es jetzt in Bethlehem weiter? 

Wir organisieren Aktivitäten, heute gab es ein Fußballspiel mit den Kindern aus dem SOS-Kinderdorf hier, die Kinder lernen die Stadt kennen, wurden auch schon medizinisch untersucht. Aber sie brauchen auch Ruhe und haben einiges zu verarbeiten. Auch wenn wir in Rafah versucht haben, sie, so gut es geht, vom Krieg abzulenken, waren da viel Angst und Stress. Ständig waren Bomben zu hören, sie konnten das Grundstück nicht verlassen, nicht zur Schule gehen. Als nächstes wird es darum gehen, Wohnungen für die Familien einzurichten.

Wo sind sie aktuell untergebracht? 

In Übergangswohnungen. Wir konnten ja nichts vorbereiten. Geplant ist, dass ein Teil von ihnen in leerstehende Gebäude im SOS-Kinderdorf Bethlehem zieht. Wir sind dabei, sie herzurichten. Für die anderen haben wir Wohnungen in der Stadt gefunden. Sie werden dort ebenfalls mit SOS-Kinderdorf-Familien aus Bethlehem gemeinsam in einem Haus leben, worüber ich sehr froh bin. Die einheimischen Familien helfen ihnen, sich zurechtzufinden. Wir hoffen, dass die Familien bereits zum Ende des Ramadans einziehen können.

Wann werden die Kinder wieder in die Schule gehen? 

Ab dem nächsten Schuljahr. Die Details stimmen wir gerade mit dem Bildungsministerium ab. Bis es so weit ist, organisieren wir Unterricht für sie, damit sie die lange Pause aufholen können und gut vorbereitet sind. Sie kommen ja hier auch in ein anderes Bildungssystem. 

Viele der Kinder haben noch Verwandte in Gaza. Ist es möglich, mit ihnen in Kontakt zu bleiben? 

Ja, das ist uns ganz wichtig. Wir versuchen, tägliche Online-Treffen zwischen den Kindern und ihren Verwandten zu organisieren. Wenn die Menschen in Gaza die Kinder auf dem Bildschirm sehen und wenn sie hören, dass sie in Sicherheit und glücklich sind, geht ein Strahlen über ihr Gesicht.
Die Treffen sind aber auch für die Kinder wichtig. Sie sind ein Band zu ihrer Heimat und zu vertrauten Menschen. Wir sind ja nur vorübergehend in Bethlehem und wollen, sobald möglich, wieder heimkehren. 

Was passiert jetzt im SOS-Kinderdorf Rafah, nachdem sie weg sind? 

Dort wird weiter intensiv Hilfe geleistet. Wir sind die einzige Organisation in ganz Gaza, die Schutz und Betreuung für Kinder bietet, die im Krieg ihre Familie verloren haben. Auch Ehemalige, die im SOS-Kinderdorf aufgewachsen sind, haben hier Zuflucht gefunden. Das SOS-Kinderdorf ist weiterhin ein humanitärer Standort, der unter allen Umständen geschützt werden muss. Unsere Kollegen und Kolleginnen leisten außerdem Nothilfe für Familien. Sie unterstützen sie unter anderem mit Bargeld-Zahlungen und psychologischer Hilfe. 

Wie geht es Ihnen persönlich? Hatten Sie schon mal Zeit, durchzuatmen?  

Wichtig war jetzt erst einmal, dass die Kinder gut versorgt sind, sowie meine Familie, die ebenfalls mitgekommen ist und auch schon einiges hinter sich hat. Als der Krieg begann, mussten wir Hals über Kopf unser Haus in Gaza Stadt verlassen. Wir konnten nichts mitnehmen, ich habe meine ganze Kleidung, alles, was ich hatte, zurückgelassen. Wir haben dann die letzten fünf Monate im SOS-Kinderdorf verbracht und müssen uns nun wieder neu einfinden. Aber wir werden es schaffen, wir haben Unterstützung, das tut gut.

Das deutsche Außenministerium war maßgeblich an der Evakuierung beteiligt und hat sie koordiniert und begleitet. Besteht da weiterhin Kontakt? 

Nachdem wir in Bethlehem angekommen sind, haben die Mitarbeitenden des deutschen Außenministeriums einen Abend mit uns verbracht. Sie bleiben in Verbindung und wollen wissen, wie es uns geht. Sie haben einen großartigen Job gemacht. Wir sind uns sehr bewusst, dass die Evakuierung ohne sie nie möglich gewesen wäre. Ein kleines Detail: Ich bin in Dortmund geboren und hatte von daher immer eine besondere Beziehung zu Deutschland. Aber nie hätte ich mir vorstellen können, dass Deutschland mal unser Leben retten würde. Ich bin von ganzem Herzen dankbar.

 

Spenden für Kinder in Palästina

Kinder und Familien in Palästina brauchen dringend Unterstützung. Bitte helfen Sie mit Ihrer Spende!

 

Abonnieren Sie unseren Newsletter

Erhalten Sie regelmäßig Informationen zu aktuellen Projekten.

Ihre Spende an die SOS-Kinderdörfer weltweit können Sie von der Steuer absetzen. Die SOS-Kinderdörfer weltweit sind als eingetragene gemeinnützige Organisation anerkannt und von der Körperschaft- und Gewerbesteuer befreit. (Steuernummer 143/221/91910)