Laut eines aktuellen UN-Berichts sind 400.000 Menschen von Hunger bedroht. Was machen die SOS-Kinderdörfer, um zu helfen?
Die Kolleg:innen in der Gegend haben begonnen, unterernährte Kinder und schwangere und stillende Frauen mit therapeutischer Zusatznahrung zu unterstützen. Wir helfen auch Menschen, die von geschlechtsbezogener Gewalt betroffen sind, zum Beispiel indem wir Decken, Nachtwäsche und Nahrungsmittel an ein Zentrum liefern, in dem die Überlebenden von sexualisierter Gewalt von den regionalen Behörden unterstützt werden. Außerdem halten wir Gesundheitszentren in Stand, die in den Konflikten beschädigt wurden, und verschaffen den Einheimischen Zugang zu Medikamenten und medizinischer Versorgung. Menschen mit chronischen Krankheiten werden von uns mit den nötigen Medikamenten versorgt, die zuletzt sehr knapp geworden waren. In unseren Programmen bieten unsere Mitarbeiter:innen auch psychosoziale Unterstützung für Kinder und Erwachsene, die von den Kriegserlebnissen traumatisiert sind und verschiedene Formen der Gewalt erlebt haben. Überlebenden von sexualisierter Gewalt helfen wir, ein Einkommen zu erwirtschaften.
Die letzte Ernte in der Region Tigray war vor mehr als sechs Monaten – auch unter normalen Umständen würden die Vorräte nun zu Ende gehen. Durch den Krieg ist die Situation nun sehr zugespitzt, da landwirtschaftliche Erzeugnisse, die normalerweise aus anderen Regionen des Landes nach Tigray gebracht werden, nun nicht dorthin gelangen. Wir planen, in Tigray Saatgut an Familien in Not zu verteilen. Aber die Straßenblockaden machen alles sehr schwierig.
Sind die Programme der SOS-Kinderdörfer in Tigray betroffen?
Alle Kinder in den Einrichtungen der SOS-Kinderdörfer sind in Sicherheit, ebenso wie unsere Kolleg:innen. Vor dem Krieg hatte das lokale Team Essen und andere Vorräte auf Lager gekauft, als Vorsichtsmaßnahme für Ausgangsbeschränkungen wegen der COVID-19-Pandemie. Als der Konflikt losbrach, mussten sie nicht auf den Markt gehen, da sie die vorrätigen Lebensmittel nutzen konnten. Nach einigen Wochen übernahmen die Regierungstruppen Mekelle, die Straße war frei und wir konnten Lebensmittel aus Addis Abeba bis nach Mekelle bringen. Somit konnten wir den Zugang zu dringend benötigten Gütern sicherstellen.
Seit die Rebellen Mekelle eingenommen haben, sind wieder alle Kontakte zwischen der Regierung und den Behörden in Tigray zusammengebrochen. Die Banken funktionieren nicht mehr und seither ist das Abheben von Geld ein Problem: Unsere Lehrer:innen und Mitarbeiter:innen können ihre Gehälter nicht beziehen.
Zusätzlich ist es schwieriger geworden, Güter und Dienstleistungen zu beschaffen, um eine geplante Nothilfe einzurichten. Alles auf Kreditbasis zu besorgen ist keine Dauerlösung, denn auch Verkäufer:innen haben bald kein Geld mehr, wenn sie nicht bezahlt werden. Unser Nationalbüro hat auch Schwierigkeiten, den Fortschritt von Projekten zu dokumentieren und unsere Spender:innen zu informieren, da die Kommunikation mit unseren Kolleg:innen in Tigray nur ein wenig verbessert ist – nachdem sie vorher komplett abgebrochen war.
Unser Nationalbüro erwägt folgende Übergangslösung: Bargeld über Mitarbeiter:innen zu schicken, wenn wir Sitze in humanitären Flugeinsätzen von Addis Abeba nach Tigray ergattern können. Manche humanitären Institutionen und Spender:innen haben ihre Aktivitäten in der Region eingestellt, aus Sicherheitsgründen und der Schwierigkeit, die Implementierung der Projekte zu überwachen.
Könnte sich der Konflikt auf andere Regionen in Äthiopien ausweiten?
Der bewaffnete Konflikt hat sich kürzlich in die Nachbarregionen Amhara und Afar ausgeweitet. Menschen, die nahe der Grenzen lebten, wurden vertrieben. Das ist ein Domino-Effekt. Es ist schwer, zu sagen, was als nächstes passiert. Wir wissen es einfach nicht. Zu viele verschiedene Parteien sind in diesen Konflikt involviert.