21. Februar 2023 | NEWS

Kinder schützen - auf beiden Seiten von Krieg und Konflikt

Die Arbeit in humanitären Notsituationen ist eine komplexe Aufgabe. Im Interview spricht Dr. Dereje Wordofa, Präsident von SOS-Kinderdorf International, über die Herausforderungen der Arbeit einer Hilfsorganisation im Kontext von Konflikten und Krieg und die humanitären Grundsätze, die die SOS-Kinderdörfer dabei verfolgen.

Herr Wordofa, wie sieht Hilfe für Kinder in Kriegs- und Konfliktgebieten aus?

Unsere oberste Priorität ist immer der Schutz und die Unterstützung der Kinder. Insbesondere derer, die keine elterliche Fürsorge haben oder Gefahr laufen, diese zu verlieren. Kriege bringen Kinder, vor allem solche ohne angemessene elterliche Fürsorge, in eine äußerst gefährliche Lage.

Überall, wo wir tätig sind, müssen wir mit Gemeinden und lokalen Behörden zusammenarbeiten. Im Kontext von Kriegen und Konflikten kann dies zu einer Herausforderung werden, da wir in der Regel mit Regierungen oder Gruppen auf gegnerischen Seiten zusammenarbeiten müssen. Wir befolgen dabei die humanitären Grundsätze der Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und Neutralität. Unsere Interventionen sind kein politischer Akt und sollten auch nicht als solcher betrachtet werden. Wir stehen auf der Seite der Kinder!

Dr. Dereje Wordofa, Präsident SOS-Kinderdorf International. Foto: Anna Fichtner

Was bedeutet das in einem Konflikt, "auf der Seite der Kinder" zu stehen?

In Zeiten von Kriegen und bewaffneten Konflikten wird von den Menschen erwartet, dass sie Partei ergreifen. Manche glauben, dass auch wir als Hilfsorganisation Partei ergreifen sollten, aber wir beziehen keine politische Position. Es kann vorkommen, dass die SOS-Kinderdörfer lebensrettende Hilfe in einer von der Regierung kontrollierten Region leisten und gleichzeitig in Gebieten, die von einer Konfliktpartei kontrolliert werden. Für die Sicherheit der Kinder und der Mitarbeiter - und die weitere Durchführung unserer Programme - müssen wir mit allen Seiten den Kontakt halten, unabhängig davon, ob wir mit ihrer politischen Einstellung einverstanden sind oder nicht.

Es ist unbestreitbar, dass Kinder unschuldige Opfer von Kriegen jeglicher Art sind. Wir treten für sie ein ungeachtet ihrer Identität und oftmals unter extrem schwierigen Bedingungen. Wir sind in mehr als 130 Ländern vertreten, von denen einige eine Geschichte von Krieg, politischen Umwälzungen und sozialen Unruhen haben. In manchen dieser Länder sind wir schon seit Jahrzehnten präsent, ungeachtet von Regierungswechseln, politischen Spannungen oder gewaltsamen Konflikten. Wir sind bekannt für unsere Unparteilichkeit und für unser bedingungsloses Eintreten für die Kinder. Dadurch ist es uns möglich, über viele Jahre in den Gemeinden zu arbeiten und langfristige Hilfe zu leisten.

Können Sie ein Beispiel für Ihre Arbeit in Konfliktregionen nennen?

Die SOS-Kinderdörfer sind zum Beispiel seit fast 20 Jahren in der Ukraine tätig und haben seit Beginn des Krieges mehr als 74.000 Kinder unterstützt. Gleichzeitig sind wir seit über 30 Jahren in Russland tätig und betreuen dort aktuell mehr als 600 Kinder direkt.

Ich erinnere mich an eine besondere Geschichte in der Ukraine, wo ein 10-jähriges Mädchen und ihr 9-jähriger Bruder zu Waisen wurden, nachdem ihr Vater bei einem Artillerieangriff auf ihr Haus getötet worden war. Ihre Mutter war bereits Jahre zuvor gestorben. Da sie keine Verwandten hatten, die sich um sie kümmern konnten, alarmierten die Behörden die SOS-Kinderdörfer, die sie bei einer erfahrenen Pflegefamilie unterbringen konnten, die aus dem Heimatdorf der Kinder in der Ostukraine stammte. Sie sind jetzt in der Westukraine in Sicherheit und werden von Erwachsenen betreut, denen sie vertrauen können. Ich bin sicher, dass es in Russland ähnliche Geschichten von Kindern gibt, die die elterliche Fürsorge verloren haben - vielleicht sogar durch den Krieg - und die nun betreut werden, damit auch sie sich entwickeln können.

In Somalia, einem Land, das jahrzehntelang von gewaltsamen Konflikten heimgesucht wurde, sind wir seit 40 Jahren ununterbrochen präsent und bieten Schutz, Pflege, Gesundheit und Bildung, und wo immer wir Zugang haben, leisten wir humanitäre Hilfe.

Und auch während des jüngsten Konflikts in der äthiopischen Region Tigray konnten wir im ganzen Land arbeiten, während wir unser SOS-Kinderdorf in Mekelle, direkt in der Konfliktregion, unterstützt und die Sicherheit der Kinder, Betreuer, Familien und Mitarbeiter gewährleistet haben.

Was sind die größten Herausforderungen dabei?

Die entscheidende Herausforderung besteht für uns darin, inmitten eines gewaltsamen Konflikts die Sicherheit und das Überleben der Kinder zu gewährleisten, indem wir rechtzeitig und angemessen lebensrettende humanitäre Hilfe leisten. Wir müssen nicht nur Nahrungsmittel, Wasser, medizinische Hilfe und Unterkünfte bereitstellen, sondern auch dafür sorgen, dass Kinder, die durch Krieg und Zerstörung Trauma erlitten haben, schnelle psychosoziale Unterstützung bekommen.

Neben den humanitären Werten befolgen wir auch den Verhaltenskodex der „Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung und der NGOs in der Katastrophenhilfe“, der besagt, dass das humanitäre Gebot an erster Stelle steht. Dies wird jedoch nicht von allen Regierungen oder Konfliktparteien verstanden. Manche erwarten von uns, dass wir uns auf eine Seite schlagen oder Kindern humanitäre Soforthilfe verweigern. Wir bleiben auch dann konsequent an der Seite der Kinder.

Gibt es jemals eine Situation, in der Sie Ihre Neutralität aufgeben?

Manchmal wird uns der humanitäre Zugang verweigert. In solchen Fällen versuchen wir, Hürden zu beseitigen, um doch noch in die Gebiete zu kommen und den notleidenden Kindern dort helfen zu können. Beispielsweise verhandeln wir mit stiller Diplomatie mit den Konfliktparteien, um den Schutz der Kinder unter extrem schwierigen Bedingungen fortzusetzen.

Als junger humanitärer Helfer in den späten 80er-Jahren war ich Zeuge großer humanitärer Einsätze inmitten eines langwierigen Krieges in Nordäthiopien. Es war eine der größten lebensrettenden Maßnahmen in Afrika, bei der die humanitäre Hilfe sowohl in den von der Regierung kontrollierten als auch in den von den Rebellen gehaltenen Gebieten koordiniert wurde. Ich habe erlebt, wie die humanitären Akteure ihr Mitgefühl mutig über die Politik gestellt haben, um den Menschen in Not zu helfen.

Dies vorausgeschickt, können wir bei jeder sich bietenden Gelegenheit den Ruf nach Frieden lautstark erheben. Ein dauerhafter Frieden ist die wirksamste Lösung für das durch Krieg und Gewaltkonflikte verursachte Leid der Kinder.

Wenn wir keinen Zugang zu humanitärer Soforthilfe erhalten oder gezwungen sind, das Land zu verlassen, können wir lokale Organisationen in der Gemeinde unterstützen, um die Kinder zu schützen. So haben wir in Haiti und im Südsudan in jüngster Vergangenheit Kinder und Mitarbeiter aus einem SOS-Kinderdorf an einen sichereren Ort evakuiert. In so einem Fall können wir manchmal nur von einem sicheren Ort aus agieren und uns für die Kinder einsetzen, in der Hoffnung, dass wir möglichst bald zurückkehren können.

Gibt es eine Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Mitgliedsorganisationen der SOS-Kinderdörfer, die auf verschiedenen Seiten des Konflikts tätig sind?

Es gibt zum Beispiel gemeinsame Programme unserer SOS-Kinderdörfer in Israel und in Palästina, bei denen die Kinder einfach als Kinder zusammenkommen – nicht als Vertreter gegnerischer Parteien. Solche Gelegenheiten sind notwendig, um das Verständnis in jungen Jahren zu fördern und hoffentlich den Samen der Akzeptanz für Menschen anderer Nationalitäten, Ethnien und Religionen zu pflanzen. Ich hoffe, dass dasselbe auch zwischen Kindern und Mitarbeitern in der Ukraine und in Russland geschehen wird, wenn der Frieden endlich wiederhergestellt ist. Dies sind kleine, aber wichtige Schritte auf dem Weg zu einer besseren Zukunft für alle.

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