Immer wenn ein Kind das SOS-Zentrum für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Athen verlässt, wird eine kleine Zeremonie abgehalten. Oft sind das bewegende Momente, so wie der Abschied von Ahmad.
Als Leiter des SOS-Zentrums für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Athen gehören Abschiede zu meinem Alltag. Für mein Team und mich sind das immer wieder bewegende Momente und manche davon werde ich nie vergessen, so, wie den Abschied von Ahmad.
Während die meisten unserer Kinder in Griechenland Asyl bekommen und versuchen, sich mit unserer Hilfe hier eine Zukunft aufzubauen, gehörte Ahmad zu denjenigen, die nach Abschluss ihres rechtlichen Verfahrens zu ihrer Familien in ein anderes europäisches Land reisten, da die Familie dort Asyl erhalten hatte.
Ahmad würde zu seiner Familie nach Spanien ziehen, und wie immer in solchen Fällen, wenn ein Kind geht, hielten wir am letzten Tag eine kleine Zeremonie ab: Alle Kinder des Zentrums sowie die Mitarbeiter versammelten sich im Wohnzimmer und Ahmad bekam Gelegenheit, zu sprechen. Anschließend bekamen alle anderen die Möglichkeit, sich zu verabschieden, ihre Gefühle auszudrücken und gute Wünsche mitzugeben. Für mich ist das, als würden wir dem Kind ein Geschenk mit in den Koffer packen.
Als Ahmad kam, war er müde, traurig und verängstigt
Als ich Ahmad vor eineinhalb Jahren zum ersten Mal begegnete, war er 15 Jahre alt und direkt aus einem der großen Flüchtlingscamps gekommen, wo er nach seiner Flucht aus Pakistan gelandet war. Er trug dreckige Klamotten, war müde, traurig und verängstigt. In der folgenden Zeit sah ich, wie er größer wurde, die Schule besuchte, Freundschaften schloss und begann, Spanisch zu lernen. Und ich sah Ahmad lachen! Er vertraute uns sehr und zeigte uns das jeden Tag. Wenn ich an ihn denke, habe ich immer noch seine Stimme im Kopf.
Nun, bei seinem Abschied, schilderte er die Zeit im SOS-Zentrum aus seiner Sicht. Er erzählte, dass er gelernt habe, konsequent zu sein, sich Ziele für die Zukunft zu stecken, seine Tage zu organisieren, für sich selbst zu sorgen, Freundschaften zu führen. Er bedankte sich bei den Kindern, vor allem bei einem Jungen, mit dem er oft zusammengesessen und gelernt hatte. Und er entschuldigte sich bei uns allen für den Fall, dass er Fehler gemacht und jemanden enttäuscht hatte. Anschließend bedankte er sich bei den Mitarbeitern und bei seinem Griechisch- und dem Englisch-Lehrer.
Ahmad hat viel gelernt
Zum Schluss sagte er etwas, an das ich immer wieder denken muss: "Das Größte, was ich hier gelernt habe, ist etwas, das ich mein ganzes Leben lang nicht geschafft hatte: Ich habe Lesen und Schreiben gelernt! Ich weiß, dass ich das nie wieder verlernen werde. Als ich hier ankam, kannte ich nicht einmal die Buchstaben!" Er sprach voller Freude und Begeisterung. Es war wirklich wichtig für ihn.
Während ich ihm zuhörte, freute ich mich mit ihm, ich war stolz auf Ahmad wie auf mein Team, das ihn so gut unterstützt hatte. Am Ende des Treffens kam er zu mir, umarmte mich mit Tränen in den Augen und sagte: "Danke für alles!"
Ein Zuhause, das ihm Sicherheit und Frieden garantierte
Als ich an diesem Tag nachhause kam, musste ich daran denken, wie es mir selbst früher ergangen war, als ich noch mit meinen Eltern im Iran lebte. Mein Vater wollte damals, dass ich die Schule wechsle, ich wollte das nicht. Ich hatte gute Freunde in der Klasse und vor allem liebte ich einen meiner Lehrer sehr. Auch er hatte mir damals Lesen und Schreiben beigebracht.
Aber weil mein Vater sehr streng war, traute ich mich nicht, mit ihm darüber zu sprechen. Stattdessen erzählte ich meinem Lehrer davon. Ich weiß noch genau, wie er kurz darauf, als ich vor unserem Haus spielte, zu uns kam und mit meinem Vater sprach. Er erzählte ihm, wie wichtig es für mich sei, an der Schule zu bleiben. Er sagte all das zu meinem Vater, was ich mich nicht zu sagen gewagt hatte. Für mich ist und bleibt er ein wahrer Lehrer!
Vertrauen ist das A und O
Ich verstehe gut, was das SOS-Zentrum für Ahmad bedeutete. Er hatte hier ein Zuhause, das ihm Sicherheit und Frieden garantierte. Er vertraute uns und schaffte es auf dieser Basis, zu tun, was er sein ganzes Leben lang nicht geschafft hatte. Ich bin mir sicher, dass er dieses Haus nie vergessen wird, und auch nicht seinen Lehrer, der ihm Lesen und Schreiben beigebracht hat.
Erneut wurde mir bewusst, wie wichtig es in unserer Arbeit ist, tragfähige Beziehungen aufzubauen. Beziehungen, die auf Ehrlichkeit, Authentizität, Akzeptanz und Vertrauen basieren.
"Wir sehen, wie die Hoffnung wächst"
Woran Flüchtlingskinder leiden, weiß Mohammad Vahedi genau: Er floh selbst als Jugendlicher aus dem Iran. Heute leitet er das SOS-Zentrum für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Athen. Hier erzählt der Psychologe von seiner Arbeit mit Flüchtlingskindern.
Eben noch warst du ein Kind. Du hattest einen Namen und die Leute wussten, wer deine Eltern sind, mit deinen Freunden verbanden dich besondere Orte, mit deiner Familie spezielle Rituale und vielleicht gab es ein Mädchen, in das du verliebt warst. Dann kamen Krieg und Not und plötzlich warst du ganz alleine unterwegs, weit weg von Zuhause, und die Leute wussten nichts mehr von dir. Jetzt warst du nur noch „ein Flüchtling“.
"Heute habe ich ein erfülltes Leben."
Jedes Kind und jeder Jugendliche in dieser Situation braucht Unterstützung, ich weiß das aus eigener Erfahrung: Vor zwanzig Jahren bin ich selbst alleine aus dem Iran nach Griechenland geflohen. Damals gab es hier noch keine organisierte Hilfe. Immer wieder musste ich auf der Straße übernachten, war schutzlos. Ich hatte Glück, bin Psychologe geworden, habe ein erfülltes Leben. Aber wie oft habe ich mir damals gewünscht, jemanden an meiner Seite zu haben. Viele andere haben die schrecklichen Erlebnisse nie bewältigt.
Deshalb ist es mir heute so wichtig, für die minderjährigen Flüchtlinge da zu sein. Es ist eine absolute Überforderung für ein Kind, so eine Situation alleine durchzustehen. 80 Prozent aller unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge leiden unter Alpträumen, Depressionen, Panikattacken und anderen Trauma-Symptomen. Sie alle brauchen einen Platz, an dem sie sich sicher fühlen, und Menschen, denen sie vertrauen. Für unsere Arbeit ist dies die Basis: tragfähige, ehrliche Beziehungen aufzubauen.
Unterstützung führt zu Heilung
Wenn ich den Kindern und Jugendlichen meine eigene Geschichte erzähle, hören sie genau zu. Dass ich vor ihnen sitze als jemand, der es geschafft hat, gibt ihnen Hoffnung. Irgendwann beginnen sie selbst zu erzählen. Wir sind dann schon mittendrin in der Arbeit, der Unterstützung und der Heilung. Meine Kollegen und ich sehen deutlich, wie im Laufe der Zeit Symptome verschwinden, neue Hoffnung wächst – wie hinter dem Flüchtling wieder der Mensch zum Vorschein kommt.
Jedes Kind, jeder Jugendliche hat ein Recht darauf, in seiner Entwicklung unterstützt zu werden – ein Recht darauf, Mensch zu sein.