Seiltanz - mit und ohne Netz

Alleinerziehend, zwei Kinder, Fulltime-Job, statt freier Zeit Alltagssorgen. Geplant war das alles mal anders, als man sich in farbenprächtigen Bildern das Abenteuer Familie ausmalte. Doch das Leben ist nicht geradlinig. Weder hier noch anderswo auf der Welt. Was der Seiltanz als Alleinerziehende mit und ohne soziales Netz für sie und eine befreundete Mutter in Tansania täglich bedeutet, erzählt Veronika Wawatschek (35).

"Wenn der Papa noch da wäre": Veronika Wawatschek ist seit dem Krebstod ihres Mannes alleinerziehende Mutter von zwei kleinen Kindern.

"Wenn der Papa noch da wäre, wäre die Familie noch ganz", stellte mein Sohn fest, da war er noch keine drei Jahre alt. Unsere Familie ist schon länger nicht mehr ganz: Gefühlt viel zu lange bewegte sich unser Familienalltag zu viert zwischen Beruf und Morphiumspritzen, zwischen Trotzphasen (meiner Kinder), zwischen schlaflosen Nächten, weil ein Kind zahnte oder Alpträume hatte, und durchwachten Nächten, weil mein Mann von den Schmerzen aus dem Bett getrieben wurde, durchs Haus tigerte, Podcasts und Serien in mehr als Zimmerlautstärke konsumierte und dabei im Halbschlaf Griesbrei kochte.

Krebs – die Familie zerbricht

Endgültig zerbrochen ist unsere Familie vor gut einem Jahr, als mein Mann an Krebs gestorben ist. Er war 36 und ließ unsere beiden Kinder – damals fünf und zwei Jahre alt – als Halbwaisen und mich mit 33 Jahren als Witwe zurück. Ich mag das Wort nicht, aber rein statistisch gehöre ich seither zu den rund 1,5 Millionen Alleinerziehenden in Deutschland, die – so stellt es das Statistische Bundesamt in regelmäßigen Abständen fest – ein deutlich höheres Armutsrisiko haben als Zwei-Eltern-Familien: Weil mit Scheidung, Trennung, Tod nicht nur der Partner, der Geliebte, der Freund, die emotionale Stütze verloren gehen, sondern auch weil ein Gehalt fehlt. Alleinerziehende sind häufig in Teilzeit erwerbstätig. Arbeiten aber tun sie quasi rund um die Uhr, denn zusätzlich zum Job und zur Kindererziehung bleiben auch alle anderen Tätigkeiten an einer Person hängen: vom Zahnarzttermin für die Kinder übers Spülmaschine ausräumen bis hin zum Reifenwechseln.

Nach mehr als einem Jahr zu dritt gleicht unser Alltag noch immer einem Seiltanz auf der Slack-Line. Nur mit viel Konzentration schaffe ich es, ruhig zu bleiben und ein paar Schritte geradeaus zu laufen. Lasse ich locker, gerät das ganze System ins Wanken – oder um es weniger blumig an einem ganz konkreten Beispiel aus der vergangenen Woche auszuführen:

Bleibe ich morgens zehn Minuten länger liegen, einfach weil ich müde bin vom Alltag allein mit zwei Kindern, so rächen sich diese zehn Minuten gefühlt zehnfach: Die Tochter – mit ihren sechs Jahren durchaus in der Lage sich selbst anzuziehen - sitzt im Halbschlaf in ihrem Kinderzimmer, seit zehn Minuten starrt sie an die Wand gegenüber, anstatt in die frische Unterhose zu schlüpfen, mit der ich vor ihrer Nase herumwedle. Der Sohn hat unterdessen das halbe Bücherregal ausgeräumt, anstatt sich frische Socken aus der Kommode zu holen. "Kinder, anziehen! Der Kindergarten ruft" - ich könnte genauso gut mit dem Espressokocher sprechen, es hätte ungefähr den gleichen Effekt. Der wiederum ist inzwischen so übergekocht, dass ich anstatt Espresso zu trinken, Espresso aufwischen kann.

"Ich möchte am liebsten alles hinschmeißen, wenn ich nur wüsste, wohin?"

Nachdem beide Kinder endlich in Socken und restliche Kleidung hineingefunden haben, gleicht die Küche innerhalb kürzester Zeit einem Schlachtfeld: Joghurt verteilt sich auf Tisch, Wand und Boden. Die Tochter hat das Nutella immerhin nur im Gesicht und nicht auf den Klamotten. Eigentlich müssten wir in zehn Minuten aus dem Haus, es fehlt aber noch: ein frisches T-Shirt für den Kleinen, drei Mal Zähne putzen, zwei Mal kämmen, drei Mal Gesicht waschen, drei Mal Schuhe, Jacke, Mütze anziehen. Allein dafür fehlen mindestens zwei weitere Hände – vom Küchenmassaker ganz abgesehen.

"Kinder, der Morgenkreis fängt an" – manchmal fühle ich mich wie eine Schallplatte, die immer an der gleichen Stelle hängenbleibt und der schon lange niemand mehr zuhört. Die Tochter dekoriert sich vor dem Spiegel mit allerlei Klimbim, der Mund ist immer noch nutellabraun. Der Sohn schleppt zusätzlich zu den drei Büchern, für die er sich entschieden hat, jetzt auch noch das hellblaue Rieseneinhorn an, das jetzt mit in den Kindergarten muss. Die Schuhe warten noch immer im Schrank darauf, angezogen zu werden, genauso wie der Rechner in meinem Büro darauf wartet, hochgefahren zu werden. Als ich ihm endlich um 9.20 Uhr diesen Gefallen tue, bin ich fast eine halbe Stunde zu spät dran und habe doch das Gefühl, mein Soll für diesen Tag schon erfüllt zu haben. Dabei ist das nur einer von vielen Tagen, den auch Zwei-Eltern-Familien kennen, wie ich aus Vor-der-Kindergartentür-Gesprächen weiß.

Und trotzdem ist mir an solchen Tagen wirklich manchmal zum Heulen, weil ich weiß: Auf so einen nicht-enden-wollenden Morgen folgt in der Regel ein nicht-enden-wollender Abend, der an meinen Nerven zehrt. Ich möchte am liebsten alles hinschmeißen, wenn ich nur wüsste, wohin?

Begegnung mit einer alleinerziehenden Mutter in Tansania

So pathetisch es klingen mag, manchmal hilft mir an solchen Tagen tatsächlich mein Job als Journalistin und der Blick über meinen eigenen Schreibtischrand, etwa wenn ich an die damals 38-jährige Raheli und ihre damals 19-jährige Tochter Riziki denke. Ich hatte sie 2015 im ostafrikanischen Tansania bei einer Recherche kennengelernt. Ich selbst war da gerade mit meinem Sohn schwanger. Meine Tochter wusste ich zu Hause gut versorgt von dem zwar krebskranken Papa, der aber zu diesem Zeitpunkt unserem Gesundheitssystem sei Dank medikamentös stabil war und den beiden Omas. Ich konnte also die beiden Frauen in ihrer ärmlichen Hütte außerhalb der tansanischen Stadt Arusha besuchen: Wobei Hütte für diesen zehn Quadratmeter großen Lehm-Unterstand fast schon übertrieben klingt. Zu sechst wohnten sie hier draußen auf dem Acker, ohne Strom, ohne Wasser – das Licht kam von der Handytaschenlampe. Zum Laden des Geräts gingen sie regelmäßig in die Stadt. Die damals 38-jährige Mutter Raheli war mit ihren vier Kindern von ihrem gewalttätigen Mann geflohen, darunter ihre Tochter Riziki, die ihr Kind ebenfalls allein großzog, sowie Rizikis drei Brüder. Eine abgeschlossene Ausbildung hatten weder Raheli noch ihre Tochter Riziki. Sie lebten von dem, was ihr Shamba, also das Feld vor ihrer Hütte, abwarf. Manchmal verdienten sie sich ein paar Shilling mit Wassertragen dazu.

 

Hilfe für Familien in Not

Handeln, bevor Kinder auf der Straße landen: SOS unterstützt Familien, damit Eltern ihren Kindern aus eigener Kraft eine Perspektive bieten können.

 

Alleingelassen

Erst hier wurde es mir so richtig bewusst – es war klar, dass ich irgendwann alleinerziehend sein würde, die Diagnose Krebs hatte mein Mann bereits seit 2006 – wie wichtig ein soziales Netz, eine gute Ausbildung, letztlich ein Sozialstaat drumherum ist.

Denn auch wenn das Leben für meine Kinder und mich einfacher hätte sein können, wir sind trotz allem weich gefallen. Wenn Raheli krank ist und nicht auf dem Feld arbeiten kann, verdient sie nichts. Sie, ihre Kinder und ihr Enkelkind müssen im schlimmsten Fall hungern. Wenn ich krank bin, bekomme ich Krankengeld. Mein Verdienst ist unabhängig von Regen- und Trockenzeiten, im schlimmsten Fall könnte ich Arbeitslosengeld bekommen. Weder Rahelis Ex-Mann noch Rizikis Ex-Freund zahlen für ihre Kinder, in Deutschland könnten die Frauen den Unterhalt zumindest einklagen, im Zweifel käme der Staat dafür auf. Für meine Kinder muss ich kein Schulgeld zahlen, sie werden – mit Unterstützung von Familie und Freunden – eine gute Ausbildung bekommen und irgendwann auf eigenen Beinen stehen. Rahelis Tochter Riziki brach ihre Schule ab, als sie schwanger wurde. Sie hofft, dass sie den Abschluss irgendwann nachholen kann. Aber jetzt, mit Kleinkind?

Immer wieder aufgefangen

Obwohl unserer Familie die Krankheit Krebs immer wieder im Nacken saß, sich zwischen uns drängte, oft dann, wenn es gerade ruhiger zu werden schien mit den Jobs, den Kindern – unsere Familie ist immer wieder aufgefangen worden, von Freunden und Familie, die da waren und zuhörten, aber auch einfach mal eine Suppe vorbeibrachten oder uns den Rasen mähten, von einem Gesundheitssystem, ohne das mein Mann nie zehn Jahre mit der Krankheit hätte leben können und letztlich von einem Sozialstaat, der es möglich macht, auch allein mit zwei Kindern als Familie zu leben. Denn so sieht es meine Tochter inzwischen: "Wir sind jetzt zu dritt eine Familie." (Und dieses Gefühl – ganz nebenbei bemerkt – möchte ich keinesfalls missen!)

Hilfe zur Selbsthilfe für alleinerziehende Mütter

Sorgt für ihre verwaisten Enkel: eine Großmutter, die durch die SOS-Familienhilfe in Südafrika Beistand erhält

Die Familienhilfe der SOS-Kinderdörfer unterstützt vor allem alleinerziehende Mütter und ihre Kinder. In Entwicklungsländern sind diese häufig in einer verzweifelten Lage: Oft gibt es weder staatliche Hilfen noch eine Unterhaltspflicht – und viele Frauen hatten nie die Chance, zur Schule zu gehen oder einen Beruf zu erlernen. Die SOS-Familienhilfe umfasst vielfältige Hilfs-, Beratungs- und Bildungsangebote, z.B. Unterstützung beim Schulgeld oder bei der Gründung eines Kleingewerbes durch Mikrokredite. Das Ziel ist stets: Familien zu befähigen, ihre Zukunft selbst zu gestalten. Hier erfahren Sie mehr zu SOS-Familienhilfe.

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