Wie kaum ein anderer Ort steht die kleine Stadt Bethlehem als Geburtsstätte Jesu für Frieden und Hoffnung in der Welt. Doch die SOS-Kinderdörfer haben hier eine große Aufgabe: In Palästina haben viele Kinder ihre Eltern durch den jahrzehntelangen Konflikt verloren. Eine Reportage von Silja Streek.
Die Nacht ist dunkel, der Stern von Bethlehem leuchtet nicht. Wenige Kilometer vor der kleinen Stadt im Westjordanland taucht eine Festung auf. Grelle Scheinwerfer zerschneiden die Nacht rund um den Kontrollpunkt an der Betonmauer, die den Weg von Jerusalem nach Bethlehem unterbricht. Maschinengewehre im Anschlag, fordern israelische Soldaten den Pass, öffnen den Kofferraum und stellen eindringliche Fragen, bevor sie die Schranke vor der acht Meter hohen Mauer öffnen, die die Jahrhunderte lang verbundene Städte voneinander trennt.
Ziel der Reise ist das SOS-Kinderdorf Bethlehem, das Kindern Zuflucht bietet, seit fast 40 Jahren. „Wir bauen Bethlehems, viele kleine Bethlehems in der ganzen Welt“, hatte einst der Gründer der SOS-Kinderdörfer, Hermann Gmeiner, gesagt. Bethlehem, das hieß für ihn, dass ein Kind nicht unbeschützt und ohne Bleibe sein darf. Wie kaum ein anderer Ort steht die kleine Stadt als Geburtsstätte Jesu für Frieden und Hoffnung in der Welt. Von weihnachtlichem Glanz ist hier in diesen Tagen aber wenig zu spüren: Die Sperrmauer schneidet Betlehem von der Außenwelt ab, Touristen und Pilger blieben jahrelang aus. Zu unsicher ist die Lage auf den Straßen, der Weg durch die Mauer schreckt ab. Ein paar elektrische Lichterketten beleuchten die Gassen rund um den Krippenplatz vor der Geburtskirche. Die meisten Läden und Hotels liegen jedoch verwaist hinter herabgelassenen Rolläden.
Die Kinder sprachen von nichts anderem als dem Tod
Kann ein einziges SOS-Kinderdorf da Trost bieten? „Überall Soldaten“, sagt der kleine Hamid (Name geändert) und ballt die Hände zu Fäusten. Sein Blick versinkt ins Leere. Erst seit wenigen Wochen ist der Fünfjährige im SOS-Kinderdorf Bethlehem. Mit zwei Geschwistern kam der Palästinenserjunge als Notfall hierher. Bei einer Razzia im Flüchtlingslager bei Nablus hatten Soldaten den Vater erschossen – unmittelbar vor den Augen der Kinder. Nur wenige Tage später starb auch die Mutter, von den Brüdern bezichtigt, den Ehemann verraten zu haben, schnitten sie ihr die Kehle durch.
Nur mit viel Geduld und Liebe konnten die drei schwer traumatisierten Kinder an ihr neues Zuhause gewöhnt werden. „In den ersten Tagen liefen sie aus dem Haus, schlugen um sich und sprachen von nichts anderem als von Tod“, sagt SOS-Mutter Rowaida, die neun Kinder in ihrem Haus betreut. Die Mutter sieht erschöpft aus. „Der Anfang war nicht leicht“, sagt sie. Noch immer greift Hamid anderen Kindern an die Gurgel, wenn die schlimmen Bilder ihn wieder einholen.
Fast 100 Kinder aus ganz Palästina leben im SOS-Kinderdorf Bethlehem. Sie kommen aus Städten wie Jenin, Nablus, Ramallah sowie aus der Umgebung von Bethlehem. Die meisten sind Sozialwaisen: Ihre Eltern leben noch, können sie aber nicht mehr betreuen - weil sie zu arm sind, zu krank oder weil sie im Gefängnis sitzen.
Medikamente gegen schwere Depressionen
Angst, Gewalt und Armut bestimmen den Alltag in den palästinensischen Autonomiegebieten: Rund zwei Millionen Kinder und Jugendliche leben hier, mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist jünger als 18 Jahre, die Geburtenrate ist eine der höchsten der Welt. Und noch eine andere Zahl hält einen traurigen Rekord: Rund 70 Prozent von ihnen sind verhaltensgestört, aggressiv, hyperaktiv. Von Bethlehem aus haben die SOS-Kinderdörfer ein mobiles Hilfsprogramm für Kinder und Jugendliche entwickelt. Seit Anfang 2003 tourt die mobile Therapiestation durch die Städte der Westbank, um möglichst viele Kinder zu erreichen. Zum ständigen Team gehören ein Psychologe, zwei Sozialarbeiter und ein Laborant. „Der tägliche Anblick schwer bewaffneter Soldaten, die schlechte wirtschaftliche Situation und die Einschränkung der Bewegungsfreiheit in der Westbank spiegeln sich auch in der psychischen Verfassung der Kinder wieder“, sagt Dr. Salman Tawfiq, der das Projekt leitet. „90 Prozent der Kinder, die ins Psychomobil kommen, sind Bettnässer, etliche haben schwere Depressionen, manche müssen medikamentös behandelt werden.“
"Wir brauchen endlich Frieden hier!"
Aktueller Standort des Therapiezentrums ist Ramallah: Fünf Minuten vom früheren Amtssitz Yassir Arafat entfernt steht das Mobil mit wehender SOS-Fahne an der Hauptstraße. In dem weißen Container, der innen fröhlich bunt gestrichen ist und eine angenehme Ruhe verströmt, sind zwei Behandlungsräume untergebracht sowie ein Labor für Blutanalysen – viele der Kinder sind zusätzlich zu den psychischen Leiden unterernährt oder haben Mangelerscheinungen. Nach einer umfassenden Diagnosestellung können die kleinen Patienten hier Malen, Spielen und Erzählen – unter therapeutischer Aufsicht. Das Arbeitsteam besucht auch Familien und Schulen, berät und unterstützt. Bis zur vollständigen Heilung dauert es oft Jahre, sagt Dr. Tawfiq. Die längerfristige Therapie übernehmen ortsansässige Psychologen, mit denen die SOS-Kinderdörfer zusammenarbeiten.
Im Behandlungszimmer stehen kleine Stühle um einen Tisch, Filzstifte liegen verstreut. Der elfjährige Mohammed wartet, dass seine Mutter ihn von der Maltherapie abholt. Die Zeichnung auf dem Tisch ist übersät mit Soldaten, Waffen und einer palästinensischen Flagge. In arabischer Schrift steht darunter: „Wir brauchen endlich Frieden hier.“ Die SOS- Kinderdörfer sind unpolitisch und können den Frieden daher auch nicht bringen. Was sie aber leisten können ist, den Kindern Platz zu geben, in Sicherheit aufzuwachsen und ihre Wünsche frei zu äußern. Ein kleines Leuchten am Himmel vom Bethlehem.
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