Alea Horst ist als Fotografin weltweit unterwegs und dokumentiert die Arbeit der SOS-Kinderdörfer. Sie besucht dafür auch Orte, an die Kinder und Familien geflohen sind.
Frau Horst, Sie waren im März 2024 im SOS-Kinderdorf Bethlehem im Westjordanland. Was können Sie von dort berichten?
Erst einmal Gutes, Mitte März konnten 68 Kinder und elf Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus dem SOS-Kinderdorf in Rafah in Gaza nach Bethlehem gebracht und somit aus der akuten Gefahr gerettet werden. Die Kinderpsychologinnen und Mitarbeiter des SOS-Kinderdorfs unterstützen die Kindern jetzt, das Erlebte zu verarbeiten.
Wie wirkt sich die derzeitige Lage in der Westbank auf das SOS-Kinderdorf in Bethlehem aus?
Als Reaktion auf den Terroranschlag der Hamas führt das israelische Militär vermehrt Razzien in den palästinensischen Wohngebieten durch. Dabei kommt es zu Schusswechseln, auch in der Nähe des SOS-Kinderdorfs. Ich habe das selbst gehört, weil ich dort übernachtet habe. Da sind eines Nachts Granaten explodiert, die sind irre laut. Dazu pausenlos Schüsse. Wir haben den Krankenwagen gehört, die Sirene. Das ging eine knappe Stunde und war nur 200 Meter vom Haus entfernt. Am Morgen danach hat mir die Kinderpsychologin gesagt, die Kinder hätten eine wahnsinnige Angst ausgestanden. Das Bedrohungsgefühl, das sie seit dem Krieg in Gaza haben, wird durch solche Erlebnisse immer wieder bestätigt.
Wie heißt das für die Arbeit der SOS-Mitarbeitenden?
Ich habe einen fünfjährigen Junge kennengelernt. Die Betreuer haben mir erzählt, dass er sie seit Oktober täglich gefragt hatte: Muss ich jetzt sterben? Ist es soweit? Seine SOS-Mama, die Psychologen und die Sozialarbeiterinnen, alle haben ihm gesagt: Du bist hier sicher, das Kinderdorf ist sicher, der Krieg ist nicht hier. Der Junge hatte sich beruhigt. Seit dieser Schießerei in der Nachbarschaft stellt er wieder täglich seine Frage. Die Psycholog:innen müssen bei Null anfangen. Aber sie geben nie auf, obwohl ihre Aufgabe oft einer Sisyphos-Arbeit ähnelt.
Sie haben für ihre Arbeit zahlreiche Flüchtlingslager besucht. Was ist typisch für Kinder auf der Flucht?
Kinder bleiben auch dann, wenn sie schon länger in einem Flüchtlingslager leben, in einer Art "Überlebensmodus". Diese Camps sind keine sicheren Orte. Es kommt dort oft zu Gewalt, weil die Armut so groß ist. Krankheiten breiten sich leicht aus. Es mangelt an allem, vor allem an Perspektive. Damit lastet ein großer psychischer Druck auf den Erwachsenen und den Kindern. Oft haben sie auch Angst um Menschen, die noch zu Hause sind oder die sie auf der Flucht verloren haben. Ihr Nervensystem kann gar nicht zur Ruhe kommen.
Woran erkennt man das?
Manche Kinder spielen nicht mehr. Man kann sie auch mit kindgerechter Ansprache nicht mehr erreichen. Wenn man ihnen beispielsweise einen Ball zeigt, kommt einfach keine Reaktion. Gleichzeitig wird die Not von Kindern an diesen Orten oft übersehen. Deswegen ist die Arbeit der SOS-Kinderdörfer für Kinder und Jugendliche in Flüchtlingslagern, so immens wertvoll. Das habe ich vor einigen Jahren in Cox's Bazar in Bangladesch gesehen. Dort leben ungefähr eine Million Menschen der Volksgruppe der Rohingya, die seit August 2017 vor der Gewalt in Myanmar geflohen sind. Die SOS-Kinderdörfer bieten in dem Camp eine Art Vorschule an. Sozialarbeiter und Pädagoginnen machen mit den Kleinen Frühsport, bringen ihnen das ABC bei, malen und singen mit ihnen. Es gibt einen Bereich, wo man Seil springen und Fußball spielen kann. Die Kinder sind Feuer und Flamme.*
Malen, Spielen, Lesen lernen - was macht diese normalen Aktivitäten so wertvoll?
Sie bilden in der Ungewissheit und Eintönigkeit des Lagerlebens einen Anker. Für Kinder macht es einen Riesenunterschied, ob sich ihnen jemand zuwendet - oder eben nicht. Es ist zentral für sie, eine Aufgabe zu haben, etwas lernen zu dürfen und nicht einfach zum Nichtstun verdammt zu sein.
Was hilft Ihrer Meinung nach geflüchteten Kindern und Jugendlichen besonders?
Gemeinschaft zu erleben, hat eine heilsame Wirkung. Ich war 2023 für die SOS-Kinderdörfer in Crotone in Italien. Dort sind in einer tristen Flüchtlingsunterkunft jugendliche Minderjährige untergebracht, die ihre Fahrt übers Meer alleine gemacht und auf ihrer Flucht Schlimmes erlebt haben. Vielen von ihnen hat es förmlich die Sprache verschlagen. Die SOS-Kinderdörfern sind dort mit einem Programm aktiv, das den Schwerpunkt auf Bewegung legt und mit Ideen aus der Theaterpädagogik arbeitet. Die Betreuerinnen machen mit den jungen Migranten psychosoziale Spiele, bei denen es beispielsweise darum geht, gemeinsam ein Ziel zu erreichen. Sie wecken damit den Teamgeist und den sportlichen Ehrgeiz. Die jungen Menschen erleben Verbundenheit mit anderen, bauen Beziehungen zu anderen auf und können zugleich ihre Persönlichkeit entdecken. Ich habe gesehen, wie sie auch einfach mal wieder lachen können.
Das Interview führte Margarete Moulin.
*) In diesem Programm sind die SOS-Kinderdörfer aktuell nicht mehr aktiv.