Die Aufgabe der Adlermutter
Im Interview erzählt Teresa Ngigi, Psychologin der SOS-Kinderdörfer, was ein Kind braucht, um psychisch gesund aufzuwachsen.
Frau Ngigi, wenn Sie eine Sache benennen sollten: Was ist das Allerwichtigste, damit ein Kind psychisch gesund aufwachsen kann?
Das Kind braucht Sicherheit. Das ist die Grundlage für alles. Wenn ein Kind sich nicht sicher fühlt, können wir machen, was wir wollen: Es wird immer auf der Hut sein, nicht in der Lage, Vertrauen aufzubauen, Bindungen einzugehen. Das Kind kann nicht aufblühen.
Was genau meinen Sie, wenn Sie von Sicherheit sprechen?
Da geht es um verschiedene Ebenen. Es ist zum Beispiel wichtig, dass ein Kind sich physisch sicher fühlt und keine Angst um sein Leben haben muss. Aber das alleine reicht nicht aus: Es braucht auch psychische Sicherheit, verlässliche Bindungen, muss sich geliebt fühlen. Genauso ist es wichtig, dass es sich hinauswagt und in unterschiedlichen Situationen ausprobiert.

Wir müssen dem Kind etwas zumuten?
Absolut. Es gibt das schöne Beispiel des Adlers: Wenn ein Adlerküken flügge wird, schupst die Mutter es ganz behutsam aus dem Nest, lässt es ein paar Meter fallen und fängt es dann wieder auf. Das macht sie so oft, bis der junge Adler irgendwann zu fliegen beginnt. Dann ist ihre Aufgabe erledigt.
Wie gelingt es uns als Eltern oder Erziehungspersonen, zu unterscheiden, was dran ist: Unterstützen oder fliegen lassen?
Das ist nicht immer leicht. Es kann schnell passieren, dass wir unsere eigenen Ängste oder Wünsche auf die Kinder übertragen. Aber auch als Eltern müssen wir nicht perfekt sein, und wir sollten unbedingt auch die Meinung der Kinder dazu hören. Partizipation ist auch ein wichtiger Aspekt der psychischen Gesundheit.
Wie früh beginnt sie?
Wir können die Kinder schon mit einbeziehen, wenn sie noch sehr jung sind. Sie sollen spüren, dass es ihr Leben ist, sie an wichtigen Entscheidungen beteiligt werden, sich als selbstwirksam erleben. Natürlich können wir als Erwachsene eine Menge tun, um ihre Entwicklung zu fördern, aber wir sollten das Haus unbedingt gemeinsam mit ihnen bauen und auf der Basis dessen, was die Kinder mitbringen, ihren individuellen Stärken, ihrer Persönlichkeit. Nur dann wird es ein stabiles und schönes Haus.
Unterschätzen wir die Kinder manchmal?
Es steckt eine Menge in ihnen. Eine Jugendliche aus Rumänien hat mal zu mir gesagt: Ihr Erwachsenen solltet erst in Verbindung mit uns gehen, bevor ihr uns korrigieren wollt. Das finde ich sehr richtig: Erstmal schauen, wer da vor mir steht, was er oder sie schon alles mitbringt – und dann kann ich immer noch meine Unterstützung anbieten.