Olive (30) arbeitet als Schutzbeauftrage an Bord der "Humanity 1". Das Rettungsschiff nimmt Flüchtende auf, die im zentralen Mittelmeer in Seenot geraten. Im Interview gewährt Olive uns Einblicke in ihre bewegende Arbeit. Gemeinsam mit SOS Humanity, einer zivilen Seenotrettungsorganisation, schaffen die SOS-Kinderdörfer sichere Rückzugsorte für Frauen und Kinder an Bord – und stellen ihre medizinische und psychosoziale Betreuung sowie Versorgung auf der Flucht sicher.
Wie werden Flüchtende an Bord betreut? Wie gehen Sie speziell auf die Bedürfnisse von Frauen und Kindern ein?
Wir legen großen Wert darauf, den Geretteten eine ganzheitliche Betreuung zukommen zu lassen, indem wir ihre Bedürfnisse ins Zentrum unserer Arbeit stellen. Dies beinhaltet z. B. die Einrichtung eines Spielzimmers, im Vorraum zum Woman Shelter. Bei unserem letzten Rettungseinsatz waren über 25 Prozent der Betroffenen minderjährig. Ein erheblicher Teil davon waren Kinder.
Zusätzlich gewährleisten wir allen Zugang zu medizinischer Versorgung und Beratung. Wir nehmen uns Zeit, um mit den Geretteten zu interagieren, ins Gespräch zu kommen und einen Raum zu schaffen, der von Würde, Empowerment, Respekt und Fürsorge geprägt ist. Insbesondere für Kinder organisieren wir Aktivitäten und Spiele, um ihnen eine Auszeit von den oft traumatischen Ereignissen zu ermöglichen und Momente der Freude und Verbundenheit zu schaffen.
Warum sind gerade Kinder und Frauen auf der Flucht so schutzbedürftig?
Frauen und Kinder sind besonders vulnerabel, da sie in jeder Phase der Flucht häufiger Gewalt erfahren – in ihrem Heimatland, auf der Flucht oder in ihrem Zielland. Außerdem sind die Reisen sehr lang, beschwerlich und gefährlich. Man kann sich kaum vorstellen, wie schwierig das ist – besonders, wenn man mit einem Kind unterwegs oder selbst ein Kind ist, das mit beängstigenden Erlebnissen konfrontiert ist.
“Kinder und Frauen sind besonders vulnerabel, da sie in jeder Phase der Flucht häufiger Gewalt erfahren.”
Aus welchen Gründen verlassen die Menschen ihre Heimat? Was suchen Sie?
Jeder einzelne Mensch flieht aus individuellen Beweggründen und hat unterschiedliche Hoffnungen für die Zukunft. Sie alle haben ihre eigene Geschichte – wie der Rest von uns. Meistens erzählen die Flüchtenden, dass sie nach Europa kommen, um einen sicheren Ort und ein neues Zuhause zu finden. Denn dort haben sie mehr Möglichkeiten auf eine bessere Zukunft. Viele von ihnen fliehen auch auf Grund von Gewalt und Konflikten. Einige sind bereits innerhalb des afrikanischen Kontinents in den Norden geflohen, um in Libyen oder Tunesien Arbeit zu finden. Sie können jedoch nicht mehr in ihre Heimat zurück, denn die Sahara ist wie “ein zweites Meer” - weil die Route durch die Wüste so gefährlich ist. Daher führt der einzige Weg weiter nach Norden.
Wie stellt die Crew den Schutz der Menschen an Bord sicher? Was sind die Herausforderungen?
Die Versorgung an Bord eines Schiffes stellt eine große Herausforderung dar, besonders mit einer Crew von 28 Personen und begrenzten Ressourcen. Wir bemühen uns, das Beste zu tun, aber in manchen Fällen leiten wir Menschen mit besonderen Schutz- oder medizinischen Bedürfnissen an spezialisierte Stellen an Land weiter. Dabei kooperieren wir mit Partnerorganisationen, um eine nahtlose Unterstützung zu gewährleisten. Da die Geflüchteten nur für kurze Zeit an Bord sind, manchmal nur für wenige Tage, ist es meine Aufgabe, ihnen wichtige Informationen weiterzugeben – etwa über ihre Rechte in Europa und das Asylsystem sowie darüber, was sie erwartet, wenn wir in Europa ankommen.
Was hast du bei dem letzten Rettungseinsatz erlebt?
Besonders prägend waren die Bilder, die ich morgens in völliger Dunkelheit sah. In der Ferne erkannte man nur kleine Lichter und man konnte nicht unterscheiden, ob es sich um normale Fischerboote handelte oder um Notfälle. In diesem Fall waren es Flüchtende in Seenot. Als sie näherkamen, sah ich die Gesichter der Menschen – ein äußerst emotionaler Moment. Meine Aufgabe war es, sie zu registrieren und ihre Daten anonym zu erfassen. Die ersten 15, die zu uns kamen, waren Kinder – allein, verwirrt und verängstigt. Sie wussten nicht, was los war. Es war herzzerreißend, sie in diesem Zustand zu sehen.
Wie hast du das Verhalten der Kinder an Bord wahrgenommen? Hast du im Zeitverlauf Veränderungen festgestellt?
Wenn man die Kinder nach der Rettung zum ersten Mal sieht und sogar am Tag danach ist eine gewisse Zurückhaltung zu spüren. Sie sind sehr schüchtern. Dann geht es an die Verteilung der Lebensmittel, man spielt Spiele und danach sieht man förmlich, wie ihr Lächeln immer breiter wird. Wenn sie dich erkennen und sich bei dir wohlfühlen – auch teilweise schon nach drei bis vier Tagen. Das zu erleben, ist schön.
Was würdest du als Erfolg eurer Arbeit bezeichnen?
Die Aufgabe von SOS Humanity ist in erster Linie, Menschen in Seenot zu suchen und zu retten, aber es geht auch darum, sie zu schützen und ihnen zu helfen. Wenn wir also Geflüchtete in Not an Bord bringen, sie so gut wie möglich betreuen, sie mit essenziellen Informationen versorgen und an einem sicheren Ort an Land bringen, haben wir dieses Ziel erreicht.
Aus meiner persönlichen Perspektive möchte ich betonen, in welchem schwierigen Umfeld wir derzeit arbeiten. Das Mittelmeer ist die tödlichste Migrationsroute. Und es gibt kein EU-geführtes Such- und Rettungsprogramm. In der Zwischenzeit werden auf EU-Ebene Maßnahmen ergriffen, die zu Gewalt und mehr Todesfällen an den Grenzen führen. Gleichzeitig wird die Arbeit der zivilen Rettungsflotte zunehmend kriminalisiert, indem wir mit willkürlichen Festsetzungen der Schiffe und Geldstrafen konfrontiert werden. Dadurch wird unsere Arbeit immer wieder lahmgelegt. Daher ist die Forderung nach sicheren Fluchtwegen so wichtig wie nie zuvor.
“Die Forderung nach sicheren Fluchtwegen ist so wichtig wie nie zuvor.”
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