Meine Kindheit hat mich nicht losgelassen

Anatoly Wassiljew ist im Waisenhaus aufgewachsen und heute , Leiter des SOS-Kinderdorfes bei Moskau

Mein Name ist Anatoly Anatoljewitsch Wassiljew. Meine Freunde nennen mich "Toly Tolitsch", das ist die Kurzform meines Vor- und Vatersnamens. Ich bin Dorfleiter im SOS-Kinderdorf Tomilino bei Moskau. Warum ich hier bin, ergibt sich aus meiner Geschichte.

Anatoly Anatoljewitsch Wassiljew ist in einem russischen Waisenhaus aufgewachsen. Heute ist er Leiter im SOS-Kinderdorf Tomilino bei Moskau.

Ich bin 1958 geboren. Als ich ein Jahr alt war, kam ich in ein staatliches Waisenhaus. Zuerst ein Waisenhaus für die ganz Kleinen, mit acht Jahren in das für kleine Schulkinder, dann in das für die Schüler. Das war der übliche Ablauf für Waisenkinder. Wie es dort zugeht, wissen hier alle. Mit 18 kam ich raus. In einer Fabrik habe ich Fräser gelernt, dann kam der Wehrdienst. Dort habe ich eine Ausbildung zum Koch gemacht und danach auch als Koch gearbeitet. Eigentlich ganz erfolgreich.

Ich wollte, dass anderen Kindern mein Schicksal erspart bleibt

Aber die Kindheit hat mich nicht losgelassen, ich wollte etwas machen, das anderen Kindern mein Schicksal erspart. Zu der Zeit war ich 30. Ich kehrte an den Ort meiner Kindheit zurück und wurde im selben Waisenhaus Erzieher. Bis hin zum Studium habe ich mich weitergebildet. Nach zehn Jahren war es soweit: Ich konnte mich bei SOS bewerben. Nun bin ich Leiter einer Einrichtung, die ganz anders ist als die Waisenhäuser.

Eine Spenderin in Deutschland hat Wollsachen für die Kinder im SOS-Kinderdorf gestrickt. Dorfleiter Anatoly und der zehnjährige Nikita freuen sich stellvertretend für alle Kinder.

Ab und zu werde ich zu Fernsehsendungen eingeladen, um über meine Erfahrungen zu berichten – und darüber, dass es für die Kinder bei SOS ganz anders ist. Manchmal besuchen uns Studenten der Pädagogischen Fakultät hier im Dorf. Die sind völlig verblüfft, weil es bei uns so anders abläuft als im Waisenhaus. Sie fragen dann: "Wenn bei euch ein Kind Hunger hat, darf es sich dann etwas aus dem Kühlschrank nehmen?" Sie fragen so, weil es in staatlichen Waisenhäusern aus hygienischen Gründen den Kindern verboten ist, die Küche zu betreten. Ich frage zurück: "Wie ist das bei Ihrer Familie zuhause?" und sie antworten: "Natürlich darf das Kind das tun." Und ich sage: "Sehen Sie, wie in Ihrer Familie, so ist das auch in unseren SOS-Familien."

Familie statt Waisenhaus: SOS gilt in Russland als Vorbild

Wie soll aus einem Kind, das nicht mal zum Kühlschrank darf, ein Erwachsener werden, der sich selbst versorgen und für sich Verantwortung übernehmen kann? Viele meiner Kameraden aus den Waisenhäusern haben es nicht geschafft: keine Arbeit, kriminell geworden, alkoholkrank. Und viele geben ihre eigenen Kinder wieder im Waisenhaus ab, weil sie es als Eltern nicht schaffen.

Also, wenn Sie mich fragen: Der Erfolg der SOS-Kinderdörfer lässt sich ganz einfach beschreiben. Jedes unserer ehemaligen Kinder steht in Lohn und Brot. Sie haben ihre eigenen Familien und können sich um ihre Kinder kümmern. Nicht nur den Kindern selbst geht es damit gut, es hilft auch unserem Land. Das versteht hier in Russland jeder auf der Stelle.

Deshalb hat SOS in Russland auch einen guten Ruf. Und deshalb gilt SOS als Vorbild, wenn derzeit die Waisenhäuser durch Adoptivfamilien ersetzt werden. Auch wir betreuen inzwischen solche Adoptivfamilien. Oder andere Familien in Not.

Mut, Audauer, gute Nerven - und vor allem ein großes Herz

Den Studenten biete ich gerne Jobs als Sozialarbeiter für solche Not leidenden Familien an, aber ich sage ihnen auch: "Ihr werdet Mut brauchen, Ausdauer und gute Nerven. Und vor allem ein großes Herz."

Manchmal denke ich an meine Kindheit zurück. Dann schaukle ich auf der Schaukel draußen vor meinem Büro. Das macht mir Freude. Und die Kinder lachen darüber. Sie haben es jetzt besser.

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