Mit großen Plänen zurück in die Heimat

Masresha Esayas ist im SOS-Kinderdorf in Äthiopien aufgewachsen: Ihre hohe Begabung führte sie früh ins Ausland, jetzt ist sie in ihre Heimat zurückgekehrt

Zurück in ihrer Heimat: Masresha vor dem Familienhaus im SOS-Kinderdorf Addis Abeba, in dem sie aufgewachsen ist. Foto: Tom Maruko

Masresha Esayas verschlang als Kind reihenweise Bücher, setzte sich samstags freiwillig in die Bibliothek, um zu lernen, und brachte stets beste Schulnoten mit nach Hause: So merkte ihre SOS-Mutter schnell, dass Großes in der Kleinen steckte und sie förderte ihr Talent, wo es nur ging. Bereits als Schülerin verließ das hochbegabte Mädchen sein Zuhause, das SOS-Kinderdorf in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba, um mit einem Stipendium ins Ausland zu gehen. Mittlerweile ist Masresha 26 Jahre alt und gerade aus den USA in ihre Heimat zurückgekehrt: Sie arbeitet nun als Englischlehrerin an einer renommierten, internationalen Schule in Äthiopien und hat große Pläne. Im Interview erzählt Masresha von ihrer Kindheit in der SOS-Familie und wie diese ihr weiteres Leben beeinflusst hat.

 

Was bedeutet es für dich, im SOS-Kinderdorf aufgewachsen zu sein?
SOS hat mein Leben entscheidend verändert. Meine SOS-Familie hat mir den Weg geebnet. Sie ist das Fundament, auf der ich mein Leben aufbaue. Selbstverständlich kann man nicht zu hundert Prozent für alles gewappnet werden, was einen später erwartet. Aber ich habe die notwendigen Fähigkeiten erhalten, um erfolgreich und eigenständig zu sein: Mir wurden alle wichtigen Zutaten gegeben - was ich damit zubereite, liegt bei mir selbst.

Wie alt warst du, als du in einer SOS-Familie aufgenommen wurdest?
Ich kam mit fünf Jahren ins SOS-Kinderdorf. Damals lebte ich bei meinem Onkel. Was mit meinen Eltern passiert ist, hab ich nie erfahren.

Wie war es für dich, ins SOS-Kinderdorf zu kommen?
Ich erinnere mich noch ganz genau an den Tag meiner Ankunft im Kinderdorf. Erst duschte ich und dann aß ich zu Mittag. Ich mochte das Kinderdorf auf Anhieb, denn es gab so viel Platz und alles war sauber. Ich fand es toll, die anderen Kinder um mich zu haben. Wir spielten zusammen – zum Beispiel Fußball. Oder wir machten eine Kissenschlacht im Schlafzimmer. Jeder Tag war ein Abenteuer. Teil einer Familie zu sein, war aber das Wichtigste für mich. Es gab mir etwas, das ich vorher nicht besaß.

Zu Besuch bei ihrer SOS-Familie: Masresha im SOS-Kinderdorf Addis Abeba. Foto: Tom Maruko

Was kommt dir noch in den Kopf, wenn du an deine Kindheit hier bei SOS zurückdenkst?
Ich saß samstags stundenlang in der Bibliothek und las ein Buch nach dem anderen. Ich war ein totaler Nerd, immer fleißig und ein absoluter Überflieger in der Schule. Ich spürte, dass es dort draußen eine Welt fernab unserer SOS-Community gab, für die es sich zu lernen lohnte, und auf die ich mich vorbereiten wollte. Meine SOS-Mutter unterstützte mich sehr. Auch als viele der Meinung gewesen waren, ich sei viel zu jung, um alleine nach Swasiland zu gehen, half sie mir. Sie erkannte mein Potenzial und bestärkte mich darin, meine Träume zu verwirklichen. Sie sorgte dafür, dass ich das tat, was notwendig war, um über mich hinauszuwachsen!

Wie alt warst du, als du ins Ausland gegangen bist?
Ich war 12. Ich erhielt damals ein Stipendium für die angesehene "Waterford Kahlaba School" in Mbabane in Swasiland. Ich besuchte die Schule sieben Jahre lang. Danach bewarb ich mich an einem College in den USA, studierte dort Psychologie und machte 2015 mein Vordiplom. Direkt danach fing ich in den USA an zu arbeiten.

Klingt nach einer tadellosen Laufbahn. Warum bist du nicht in den USA geblieben?
Ja, alles lief fantastisch, aber auf einmal wurde mir klar, dass ich mich mit meiner Arbeit hier in Äthiopien nützlicher machen kann, als in den USA. Außerdem war ich so jung, als ich mein Heimatland verlassen hatte. Ich war weit weg von meiner Familie und meiner Kultur und hatte so vieles vergessen. Ich spürte, dass ich den Bezug zu meinem wahren Ich verloren hatte und es an der Zeit war, zu meinen Wurzeln zurückzukehren!

Wann bist du aus den USA nach Äthiopien zurückgekehrt?
Vor vier Monaten – und jetzt bleibe ich erstmal hier: Neben meiner Tätigkeit als Lehrerin, helfe ich Jugendlichen mit persönlichen, schulischen oder sozialen Problemen. Außerdem leiste ich jeden Samstag Freiwilligenarbeit als Beraterin an der „International Leadership Academy of Ethiopia“. Ich sehe in diesem Engagement meine Bestimmung und möchte beruflich weiter in diese Richtung gehen: Ich will hilfsbedürftige Kinder unterstützen, die etwas auf dem Kasten haben, damit sie eine echte Chance im Leben bekommen. So möchte ich etwas von der Hilfe zurückgeben, die ich erhielt.

Blicken die Jugendlichen in deiner Heimat positiv in die Zukunft?
Leider nein: Viele junge Menschen müssen umdenken und an sich glauben. Man kann sein Leben verändern, wenn man den richtigen Weg einschlägt und diesen kontinuierlich beschreitet. Wir müssen erkennen, wenn sich uns eine Möglichkeit bietet, und diese ergreifen! Am Ende kommt es auf unsere Bildung an. Wenn wir das verstehen, dann gibt es immer mehr kluge und erfolgreiche Leute in unserem Land.

Woher kommt diese pessimistische Grundhaltung der jungen Menschen in Äthiopien?
Den Jugendlichen fehlen im Alltag Vorbilder, die ihnen mit gutem Beispiel vorangehen und sie inspirieren. Dadurch verengt sich ihr Blick auf das, was sie kennen, und sie können sich kein anderes Leben vorstellen.

Wer waren deine Vorbilder?
Meine Wirtschafts-Lehrerin in der  High School war mein Vorbild und wurde zu meiner Mentorin. Sie sagte mir stets, dass alles möglich ist und ich verinnerlichte diesen Leitsatz.

Entstand damals auch dein Wunsch, als Lehrerin zu arbeiten?
Ich wusste schon immer, dass ich Lehrerin werden will. Denn Lehrerin zu sein bedeutet, die Denkweise der Schüler zu formen. Ich möchte dafür sorgen, dass sie Führungskräfte und Innovatoren werden.

Was sind deine Zukunftspläne?
Ich habe vor, zwei Jahre in Äthiopien zu arbeiten. Anschließend will ich meinen Master machen. Danach möchte ich eine Hilfsorganisation in Äthiopien gründen, die Mädchen und Frauen hilft, die häusliche Gewalt und sexuellen Missbrauch erleiden mussten. Ich möchte sie über ihre Rechte aufklären, damit sie wissen, wie sie sich schützen können. Und ich will ihnen helfen, sich zu bilden und wirtschaftlich auf eigenen Beinen zu stehen, indem sie sich berufliche Fertigkeiten wie Nähen aneignen.

Hilfe zur Selbsthilfe also?
Genau! Sie müssen befähigt werden, ihr Leben und das ihrer Familien besser zu managen – sodass sie dauerhaft eigenständig sind und dabei idealerweise noch ihr Umfeld positiv beeinflussen.

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