Zuflucht für Straßenkinder

In Ruanda schlafen Straßenkinder im Freien, in Hauseingängen oder verlassenen Gebäuden. Ausbeutung, Schläge und Diskriminierung gehören zum Alltag. Im SOS-Kinderdorf in Kigali, der Hauptstadt, gibt es einen Schutzraum für Straßenkinder.

Wenn die Mittagssonne auf die Hügel von Kigali fällt, zieht sich Umwari, 13 Jahre alt, in einen Raum zurück, den man hier "Ihumure" nennt – Trost, Geborgenheit. Gemeinsam mit zwei anderen Mädchen, Cadette (9) und Rose (8), sucht sie Schutz vor einer Welt, die für sie lange alles andere als freundlich war. Die SOS-Kinderdörfer in Ruanda haben diese Räume eingerichtet: Rückzugsorte, ausgestattet mit buntem Spielzeug, leuchtenden Wänden und Bildschirmen, die nicht nur ablenken, sondern auch zum Spielen und Nachdenken einladen.

Im Schutzraum der SOS-Kinderdörfer können Straßenkinder zur Ruhe kommen und lernen. Foto: SOS-Kinderdörfer

Hier, fernab von der Härte der Straße, werden die jungen Besucher:innen von Psychologinnen und Psychologen begleitet. Venantie Nyirambabazi ist eine von ihnen. Sie kennt die Geschichten hinter den Gesichtern – die Unsicherheiten, die Traumata, den Hunger nach einer Kindheit, wie andere sie erleben dürfen. "Unsere wichtigste Aufgabe ist es, zuzuhören", sagt sie. "Die Kinder sollen sich hier sicher fühlen. Es braucht Zeit, doch irgendwann beginnen sie, ihre Erlebnisse zu teilen."

Gewalt trieb Umwari auf die Straße

An diesem Nachmittag sind es zunächst nur Blicke, mit denen sich die drei Mädchen verständigen. Ihre Gesichter sind ernst, ihr Vertrauen tastend. Erst langsam öffnet sich Umwari. In sanften Worten erzählt sie von ihrer Mutter, von deren neuer Ehe und von Aufgaben, die für ein Kind zu groß waren: Waschen, Kochen, Putzen – und von der Gewalt, die sie schließlich aus dem Zuhause auf die Straße trieb. "Das war eine sehr schmerzhafte und schwierige Zeit in meinem Leben", sagt sie und Tränen rinnen ihr über die Wangen.

"Der Mann meiner Mutter hat mich oft geschlagen. Auf der Straße war das Leben härter, als ich es mir je vorgestellt hatte." Sie beschreibt Nächte voller Angst. "Man wird grundlos misshandelt, kann kaum schlafen, weil man ständig in Sorge ist, erneut Opfer von Gewalt zu werden. Es fühlt sich an wie in der Hölle." In diesen Momenten des Erzählens liegt der Beginn der Heilung.

"Auf der Straße zu leben ist die Hölle. Man wird grundlos misshandelt." 

Umwari, 13, aus Ruanda

Dass Kinder wie Umwari, Cadette und Rose heute in den SOS-Kinderdörfern eine neue Chance bekommen, ist nicht selbstverständlich. Die Organisation reagierte 2022 auf den sprunghaften Anstieg von Straßenkindern in Ruanda mit der Gründung der Ihumure-Häuser.

Ein Ort der Unterstützung und Hoffnung

In enger Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Gleichstellung und Familienförderung kümmern sich Teams darum, dass die Kinder nicht nur medizinisch versorgt werden, sondern auch maßgeschneiderte Lernpläne erhalten. "Wir unterstützen sie bei der Wiedereingliederung in den Schulalltag, helfen ihnen, Prüfungen vorzubereiten und sorgen dafür, dass sie in den richtigen Klassen unterkommen", erklärt Venantie Nyirambabazi.

Der Alltag in den Ihumure-Räumen ist geprägt von kleinen Fortschritten. Angélique Massengesho, eine der Betreuerinnen, betont die Bedeutung von Routine und Fürsorge: "Wir nehmen die Kinder als Teil unserer Familie auf. Der erste Schritt ist, dass sie ankommen dürfen – ohne Druck, ohne Fragen. Mit der Zeit geben wir ihnen Hilfestellung, wo sie sie brauchen. Jedes Kind soll spüren, dass es willkommen ist."

Partnerschaft für eine bessere Zukunft

Die Arbeit der SOS-Kinderdörfer geht über die bloße Versorgung hinaus: Ziel ist die Rückkehr ins Familienleben, sofern das möglich ist, und die Förderung eines selbstbestimmten Lebens. Die Zusammenarbeit mit der ruandischen Regierung schafft dafür die Voraussetzungen.

In den bunten Räumen von Ihumure lernen Umwari, Cadette und Rose, dass Geborgenheit möglich ist. Ihr Schweigen wird langsam von Lachen abgelöst, ihre Sorgen von Hoffnung – auf eine Zukunft jenseits der Straße.

 

* Namen wurden zum Schutz der Kinder geändert.

Warum werden Kinder in Ruanda zu Straßenkindern? – Ursachen und Hintergründe

Die Zahl der Straßenkinder in Ruanda hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Die Ursachen für Kinderarmut und das Leben auf der Straße sind vielfältig und reichen von sozialen über wirtschaftliche bis hin zu politischen Faktoren.

1. Armut und Arbeitslosigkeit
Trotz wirtschaftlicher Fortschritte lebt über die Hälfte der Bevölkerung Ruandas unter der Armutsgrenze (56,5 % laut Weltbank 2019). Viele Kinder müssen arbeiten oder verlassen ihr Zuhause, um auf der Straße zu überleben.

2. Familienprobleme und häusliche Gewalt

Zahlreiche Kinder fliehen vor Missbrauch, Gewalt oder Vernachlässigung in der Familie. Besonders Waisen, etwa durch HIV/AIDS oder infolge des Völkermords, sind stark betroffen.

3. Urbanisierung und schnelles Bevölkerungswachstum

Schnelle Urbanisierung und Bevölkerungszunahme führen zu Wohnungsmangel und Armut in Städten wie Kigali. Viele Familien können sich das Leben dort nicht leisten, ihre Kinder landen auf der Straße.

4. Fehlende Sozialleistungen und unzureichender Kinderschutz

Trotz ausgebauter Sozialprogramme fehlen sichere Unterkünfte, Betreuung und Bildungsperspektiven. Staatliche Stellen und NGOs sind mit dem Schutz der Straßenkinder oft überfordert.

5. Nachwirkungen des Völkermords 1994
Der Genozid hat viele Kinder zu Waisen gemacht. Der Verlust familiärer Strukturen wirkt bis heute nach und trägt wesentlich zur Straßenkinderproblematik bei.

6. COVID-19 als Verstärker der Kinderarmut

Die Pandemie verschärfte Armut und Ungleichheit. Viele Familien verloren ihr Einkommen, Kinder brachen die Schule ab und müssen auf der Straße arbeiten oder betteln.

Hidden Street Children: Das unsichtbare Problem

Neben den sichtbar auf der Straße lebenden Kindern gibt es in Ruanda auch sogenannte "Hidden Street Children". Diese Kinder leben ohne elterliche Fürsorge in Haushalten, wo sie zu schweren Arbeiten gezwungen werden, nicht zur Schule gehen und oft Gewalt erleben. Meist sind es Mädchen und sie sind offiziell nicht als Straßenkinder erfasst. Das Phänomen ist gravierend, bleibt aber oft unsichtbar und wird unterschätzt.