Mama war ein Straßenkind
Juanas Sohn fand mit drei Jahren im SOS-Kinderdorf zum ersten Mal ein Zuhause
Mit 12 lief Juana weg von ihren Eltern, weil sie es Zuhause nicht mehr aushielt. Wurde sie geschlagen? Missbraucht? Das hat sie nie erzählt. Sie sah jedoch keinen anderen Ausweg als ein Leben auf den Straßen von Sucre, Bolivien. In einer Gruppe von Kindern mit ähnlichem Schicksal, vagabundierte sie umher, begann billigen Fusel zu trinken und Lösungsmittel zu schnüffeln. Schon im Teenageralter wurde sie mehrmals schwanger und brachte vier Kinder zur Welt.
Ihr Erstgeborenes kam zu Pflegeeltern, die nächsten beiden Kinder in ein staatliches Kinderheim. Das vierte Kind behielt sie zunächst. Es war ein Schock, als sie herausfand, dass der Vater ihres letzten Kindes HIV positiv war. Juana ließ sich in einem Gesundheitszentrum testen. Das Ergebnis: Auch sie war mit dem HI-Virus infiziert. Medizinische Hilfe nahm sie nicht in Anspruch, wahrscheinlich wusste sie auch gar nicht, an wen sie sich wenden sollte. Also lebte sie alleine mit ihrem kleinen Sohn, während es ihr zunehmend schlechter ging.Das Kind war etwa drei Jahre alt, als eines Tages ein Beauftragter der Gemeindebehörde Juana fand. Jemand hatte die Behörden darauf aufmerksam gemacht, dass Juana den Dreijährigen regelmäßig misshandelte. Juana selbst war zu dieser Zeit im Endstadium ihrer AIDS-Erkrankung. Sie ergab sich ihrem Schicksal und gab schließlich auch ihr jüngstes Kind ab. Was danach mit ihr passiert ist, ist unbekannt. Juana verschwand, sie hat sich nie bei den Behörden gemeldet, nicht versucht herauszufinden, was mit ihrem vierten Kind passiert ist, oder es wieder zu sich zu nehmen. Vermutlich ist sie gestorben.
HIV/AIDS in Bolivien: Viele Straßenkinder sind betroffen
Juanas Geschichte ist kein Einzelschicksal. Viele Straßenkinder infizieren sich in Bolivien mit HIV. Zwar ist die Infektionsrate in Bolivien relativ gering: Nach der offiziellen Statistik sind insgesamt 8100 der 15- bis 49-Jährigen infiziert. Es gibt aber eine hohe Dunkelziffer, da viele Straßenkinder sich nie testen lassen oder zum Arzt gehen.
Der kleine Junge kam in die Obhut des SOS-Kinderdorfes in Sucre. Die Behörden versuchten zunächst weitere Verwandte des Kindes ausfindig zu machen, die für es sorgen könnten. Der Kleine war bereits einige Monate im Dorf, als die Behörden die Suche aufgaben. Juanas Sohn wurde Mitglied einer SOS-Familie, bekam eine neue Mutter, viele Geschwister und Spielkameraden. Die größte Sorge der SOS-Mutter war nun die Angst, das Kind könne sich bei seiner leiblichen Mutter mit HIV infiziert haben. Es wurden mehrere Tests durchgeführt, bis man sich schließlich sicher war, dass der Dreijährige großes Glück hatte. Die Testergebnisse zeigten eindeutig, dass er nicht HIV positiv ist.
Heute ist Juanas Sohn fünf Jahre alt und ein fröhliches Kind
Inzwischen ist der Junge fünf Jahre alt und kann sich kaum mehr an seine leibliche Mutter oder an seine Vergangenheit erinnern. Er ist fröhlich, wenn er mit den anderen Kindern spielt, außerdem malt und zeichnet er gerne. Noch weiß er nicht, welchem Schicksal er entgangen ist. Dem eines Straßenkindes oder einer HIV-Infektion. Doch viele seiner Geschwister und Freunde im Dorf wissen genau, wo sie herkommen, wann und warum sie ins Kinderdorf gekommen sind. Vermutlich wird es nicht mehr lange dauern, bis auch Juanas Sohn seine neue Mutter nach all diesen Dingen fragen wird. Sie wird dann die schwierige Aufgabe haben, einem fünfjährigen vom Schicksal seiner Mutter zu erzählen, die ihr halbes Leben auf der Straße verbracht hat und vermutlich an AIDS gestorben ist.