Einige Menschen stehen für Essen vor der Suppenküche in Peru an.

"Wir Frauen können alles schaffen!"

Eine Gruppe Frauen sorgt in Peru dafür, dass 150 Kinder im Ort nicht mehr Hunger leiden müssen.

Tief in den peruanischen Anden liegt das Dorf Nueva Ciudad Inca, "die neue Inkastadt". Dort sind die Kinderrechte auf Bildung und gesunde Ernährung durch die Coronapandemie in Gefahr. Aber einige Einwohnerinnen beschließen, etwas zu verändern: Sie verwandeln ein Symbol des Aufgebens in ein Symbol des Durchhaltens.

 

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In ganz Peru flatterten weiße Fahnen aus den Fenstern, es war eine Antwort auf die Lockdown-Maßnahmen. Sie wehten dort monatelang: Arme Familien signalisierten damit, dass sie Hilfe brauchten, da sie kein Essen mehr hatten. Was in den Slums von Lima begann, hat sich in hunderte Gemeinden im ganzen Land ausgebreitet. Aber in Nueva Ciudad Inca, einem Dorf in den peruanischen Anden, ist dieses Symbol der Hilflosigkeit zu einem Symbol des Durchhaltens geworden.

Eine Gruppe Frauen trotzt der Armut, die durch COVID-19 auch in Peru ansteigt. Mit einer Suppenküche unterstützen sie die Nachbarschaft. Foto: Alejandra Kaiser

Der solidarische Topf

Sechs Frauen wollten es nicht mehr hinnehmen, dass unzählige weiße Fahnen aus alten Säcken und Besenstielen vor den Häusern ihrer Gemeinde wehten: Sie gründeten eine Suppenküche, um ihren Mitbürger:innen zu helfen. Sie nannten diese Küche „Olla Solidaria“, den solidarischen Topf. 

In der Suppenküche unterstützen die Frauen arme Familien. Foto: Alejandra Kaiser

„Wir haben türkischen Reis gekocht, aber ohne Fleisch oder Hühnchen, denn das hatten wir nicht“, erinnert sich der 13-jährige Marco an den Tag der Eröffnung zurück. Seine Mutter war eine der Gründerinnen und Marco unterstützte sie dabei, von Tür zu Tür zu gehen, um den Menschen im Dorf zu erzählen, dass sie für nur einen peruanischen Sol – etwa 20 Cent – eine ganze Mahlzeit bekommen konnten.

An einem ganz normalen Tag während des Lockdowns halfen Freiwillige, größtenteils Frauen, mehr als 150 Kinder und 100 Erwachsene satt zu kriegen. Heute organisieren sie die Suppenküche im Haus einer Nachbarin. An der Wand hängt ein Zettel, auf dem die Schichten der Freiwilligen eingetragen sind und der Kochplan der Woche steht: heute Kürbissuppe, morgen Käsesalat. Eine örtliche Firma spendete Kochutensilien und große Töpfe.

Die Frauen organisieren Schichten und Einkäufe selbst. Foto: Alejandra Kaiser

Die Frauen kochen im Freien, mit Holz, denn sie können es sich nicht leisten, drinnen mit Gas zu kochen. Wenn das Essen fertig ist, schleppen sie die großen Töpfe nach innen, um das Essen den Nachbarinnen und Nachbarn zu servieren, die schon seit Mittag in einer Schlange anstehen.

Lateinamerika: 28 Millionen mehr Menschen in extremer Armut durch COVID-19

Die kleine Gemeinde von Nueva Ciudad Inca zeigt ein Leben, das in ganz Lateinamerika für viele Kinder und Familien bittere Realität ist: Schätzungen der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (ECLAC) zufolge werden zusätzliche 28 Millionen Menschen in der Region in extremer Armut leben, vor allem durch die wirtschaftlichen Probleme, die auf die Coronamaßnahmen zurückgehen. Am meisten davon betroffen sind Kinder, ihre Bildung, Gesundheit und Ernährung sind in Gefahr.

Die Coronakrise trifft viele Familien, besonders Kinder. Foto: Alejandra Kaiser

Im Lockdown von 2020 hatte mehr als ein Drittel der peruanischen Bevölkerung nichts mehr zu essen, viele Familien kämpfen immer noch damit, sich von diesen Einschnitten zu erholen. Es erinnert stark an die 1980er Jahre, als Hyperinflation und Wirtschaftskrise im ganzen Land Suppenküchen hervorbrachten, die sich selbst organisierten, um ihre Lebensmittelressourcen zu bündeln. 

Kinder brauchen die Suppenküche

Während Alejandra Kaiser, Mitarbeiterin der SOS-Kinderdörfer in Peru, die Suppenküche fotografiert, blickt die 9-jährige Laura voller Neugier auf ihre Kamera. Sie erzählt Alejandra, dass ihre Mutter wöchentliche Schichten in der Suppenküche übernimmt und dort gemeinsam mit anderen Frauen kocht und Einkäufe erledigt. "Auch wenn ich sie dadurch momentan weniger sehe, bin ich stolz auf sie, denn sie sorgt dafür, dass andere Kinder nicht hungrig bleiben", sagt Laura. Sie trägt eine Box mit Essen für sich, ihre Mutter und ihren kleinen Bruder.

Laura ist stolz auf ihre Mutter, die in der Suppenküche mithilft. Foto: Alejandra Kaiser

Mónica Bustos, Sozialarbeiterin der SOS-Kinderdörfer, sagt, dass die Anzahl der Mahlzeiten pro Tag variiert. Insgesamt sei mittlerweile nicht mehr so viel nötig wie anfangs, denn viele Familien haben sich ein wenig erholt. Aber in Hinblick auf die Schlange vor der Suppenküche wird deutlich: sie wird weiterhin gebraucht. So wie es scheint, sind es vor allem Kinder, die am meisten von der Suppenküche abhängen; sie kommen für eine Mahlzeit dorthin, während ihre Eltern zur Arbeit gehen oder nach Arbeit suchen. 
Für viele Kinder wie Marco und Laura wird das ihre einzige volle Mahlzeit am Tag sein – sie ersetzt das Essen, das sie normalerweise in der Schule bekommen würden. Leider kann das Suppenküchenteam nur für diese eine Mahlzeit am Tag aufkommen.

Die Frauen kochen mit Feuer, Gas können sie sich nicht leisten. Aber auch so sorgen sie dafür, dass Kinder wie Erwachsene werden. Foto: Alejandra Kaiser.

Online-Unterricht zwischen Bar und Hügel

Viele Familien sind aus der nahegelegenen Stadt Cusco nach Nueva Ciudad Inca gezogen, weil sie sich hier ihren Traum vom eigenen Haus erfüllen wollten. Aber die grünen Hügel und die friedliche Umgebung werden überschattet: Es fehlt überall an ganz grundsätzlichen Dingen – wie Strom und Wasser – welche die lokalen Behörden immer noch nicht installiert haben. 

Marco muss auf einen Hügel steigen für die Hausaufgaben. Foto: Alejandra Kaiser

Marco besucht seine Mutter und seine beiden jüngeren Geschwister immer am Wochenende in Nueva Ciudad Inca. Seit die Schulen geschlossen wurden, lebt er bei Verwandten in Cusco, damit er dort dem Online-Unterricht folgen kann. Ohne Strom und ohne Handyempfang musste er vorher immer in eine örtliche Bar gehen – den einzigen Ort im Dorf, in dem es Strom gibt. Um sein Handy zu laden, musste er zwei Sol zahlen, ca. 40 Cent. Dann stieg er auf einen Hügel in der Nähe, denn dort hatte er Empfang und konnte seine Hausaufgaben über Whatsapp erhalten.

"Ich war hier viel freier, ich konnte herumrennen und spielen. In der Stadt fühle ich mich eingesperrt", sagt Marco, streicht sein Haar zurück und setzt seine Kappe auf. „Aber da ich studieren und Ingenieur oder Anwalt werden will, um meiner Mutter und meiner Gemeinde hier zu helfen, musste ich gehen.“

Laura hat diese Option nicht. Nachdem sie mir stolz ihre zwei kleinen Welpen im Garten hinter dem Haus zeigt und mir erzählt, dass sie Tierärztin werden will, führt sie mich zurück zur Suppenküche. Sie hat den gesamten Tag mit Alejandra verbracht, also frage sie das Mädchen, wie sie mit ihren Schulaufgaben hinterherkommt. Laura sagt, ihr Vater nimmt das einzige Handy im Haus mit zur Arbeit, Montag bis Freitag. Deswegen kann sie ihre Hausaufgaben nur am Sonntag machen. "Manchmal leiht mir meine Tante ihr Handy, aber es ist mir peinlich, sie zu oft zu fragen." 

Die Wahl zwischen Essen und Bildung 

Viele Familien müssen eine bittere Wahl treffen zwischen Essen kaufen oder ihr Handyguthaben aufzuladen, damit die Kinder den Online-Stunden folgen können. Für Mädchen wie Laura ist das der einzige Weg, wie sie weiterhin Bildung kriegen können.

"Meine Mama sagt, dass meine Handschrift nicht schön ist. Deswegen schreibe ich jetzt alles, was ich dieses Jahr gelernt habe, noch einmal auf in ein neues Heft", fügt sie hinzu und springt den Hügel hinunter, der zum "Solidarischen Topf" führt.

Viele Kinder wie die kleine Laura (rechts) müssen auf Bildung verzichten. Foto: Alejandra Kaiser

Das Schuljahr endete im Dezember, die Kinder haben zwei Monate Sommerferien. Aber ganz anders als in vergangenen Jahren freuen sich Marco und Laura schon wieder darauf, wenn sie im März hoffentlich wieder in ihre Klassenzimmer zurückkehren können. Marco, weil er dann wieder mit seinen Geschwistern und seiner Mutter leben kann; Laura, weil sie das Lernen vermisst. "In der Schule bin ich schlauer geworden", sagt sie.

Ein Teller voller Essen für jedes Kind

Die Frauen, die die Suppenküche betreiben, wollen sie nun in eine Gemeindeküche umwandeln. Dadurch würden sie ein monatliches Budget von lokalen Behörden bekommen, sie hätten dadurch die Garantie, die Küche weiterbetreiben zu können. Aber sie empfinden den Prozess als sehr bürokratisch. Mitten in einer politischen Krise müssen viele Suppenküchen in ganz Peru sehr lange darauf warten, dass der Kongress ein lange überfälliges Gesetz verabschiedet, um diesen Prozess zu beschleunigen.

In Nueva Ciudad Inka wehen nun weniger weiße Flaggen als vorher. Foto: Alejandra Kaiser

Trotz dieser trostlosen Realität und dem langen Warten auf die Unterstützung der Regierung hat sich eine kleine Gemeinde wie Nueva Ciudad Inca dazu entschlossen zu handeln: Sie begegnet der Krise mit Solidarität und Durchhaltevermögen. 

Draußen, in der Schlange vor der Suppenküche, finden all die Frauen und Kinder mit ihren leeren Behältern und Flaschen Trost und Halt in den Gesprächen miteinander. Sie sind froh, dass sie sich nun besser kennen, sie wissen, wie ihre Nachbar:innen heißen und dass sie sich gegenseitig unterstützen können. Zumindest, und da sind sich alle einig, hat nun jedes Kind etwas zu essen. 

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