"Hilfesuchenden einen sicheren Raum bieten"

Viktoriia Prykhodko ist Psychologin und betreibt eine online-basierte Privatpraxis mit Klient:innen. Außerdem ist sie für die psychosoziale Beratungsplattform krisenchat tätig und leitet gelgentlich Workshops für ukrainische Unternehmen zum Thema "Selbstfürsorge während des Krieges". 

Wie sind Sie auf krisenchat Ukrainian aufmerksam geworden, und warum haben Sie sich für die Arbeit bei krisenchat Ukrainian entschieden? 

Prykhodko: Von Krisenchat Ukrainian habe ich über LinkedIn erfahren. Ich war von dieser Initiative wirklich beeindruckt und wollte natürlich Teil von ihr werden. Ich weiß, wie ukrainische Menschen derzeit mit all den Situationen zu kämpfen haben. Ich weiß auch, dass nicht alle unter ihnen bereit sind, Psycholog*innen oder Psychotherapeut*innen aufzusuchen, was später zu einem echten Problem werden kann. Deshalb ist krisenchat für mich eine Gelegenheit, mein Wissen und meine Fertigkeiten zu teilen und die ukrainischen Menschen zu unterstützen. 

Mit welchen Anliegen melden sich die Hilfesuchenden aus der Ukraine bei Ihnen, und wie können Sie Ihnen helfen?  

Prykhodko: Ich würde sagen, dass wir bereits einige Typen besonders häufiger Anliegen der Hilfesuchenden haben: 1. Umgang mit Ängstlichkeit, insbesondere Zukunftsängsten, 2. akute Gefühle wie Suizidalität und Selbstschädigung, was sehr heikle Themen sein können, von denen die Hilfesuchenden Angst haben, anderen zu erzählen, 3. Apathie, wenig Energie, Erschöpfung, Heimweh, Unwillen, im neuen Land etwas zu unternehmen, 4. akuter Stress und erste PTBS-Symptome (Albträume, Überlebensschuld, Angst vor bestimmten Geräuschen, unkontrollierte Emotionen, etc.). Das können auch Beziehungsfragen (mit Partner*innen oder Eltern) oder Einsamkeit sein, manchmal erreichen uns Anfragen nach Ressourcen: Information zu Gesundheitsversorgung oder Hilfe in Rechtsfragen. Unser Hauptziel ist es, Hilfesuchenden einen sicheren Raum für ihre Gedanken und Gefühle zu bieten. Ein Ort, in dem sie sich unterstützt und gehört fühlen. Wir können also ihre Gefühle validieren, ihnen die Prozesse erklären (was mit ihnen passiert) als eine Art Psychoedukation, ihnen einfach Stabilisierungsübungen zur Emotionsregulation geben und ihnen Helfen, ihre eigenen Ressourcen zu aktivieren. Wenn es eine akute Situation ist, erstellen wir mit den Hilfesuchenden einen Sicherheitsplan. Das Wichtigste ist, dass wir eine unterstützende und sichere Umgebung ohne Wertung bieten. 

"Unser Hauptziel ist es, Hilfesuchenden einen sicheren Raum für ihre Gedanken und Gefühle zu bieten."

Viktoriia Prykhodko

Wie kann man nachhaltig helfen? 

Prykhodko: Nun, Krisenchat ist eine Krisenberatung und keine Psychotherapie. Insofern geht es uns um kurzfristige Hilfestellung. Wir haben jedoch keine Beschränkungen dahingehend, wie häufig Hilfesuchende uns schreiben können. So haben wir recht viele wiederkehrende Chats, in denen die Menschen uns hin und wieder schreiben. Und in dieser Hinsicht kann unsere Hilfe ausreichend nachhaltig sein, denn sie wird für die Menschen zu einem sicheren Ort, wo sie sich nicht nur aussprechen, sondern auch lernen können, ihre Gefühle und Gedanken zu verstehen, ihre Emotionen zu regulieren und ehrlicher zu sich selbst zu sein. 

Erhalten Sie auch Feedbacks der Chatter:innen nach der Beratung? 

Prykhodko: Ja, natürlich. Manche Chatter:innen teilen ihr Feedback mit uns. Und natürlich fragen wir sie, wie sie sich nach unserem Austausch fühlen, um herauszufinden, ob unsere Interventionen ausreichend hilfreich sind. 

Wieso ist die Beratung per Chat eigentlich so hilfreich? 

Prykhodko: Zuallererst ist es eine sehr übliche Kommunikationsweise, insbesondere für junge Menschen unter 25. Ich denke, es hilft zu entspannen, Scham zu reduzieren und weniger Ängstlichkeit zu spüren, weil es aussehen kann wie ein Chat mit einer Freundin/einem Freund. Außerdem Anonymität. Wir haben keine Fotos der Chatter:innen, wir können sie nicht hören oder sehen und das hilft, über Gefühle zu sprechen, weil es für die meisten Menschen im Chat ihre erste Erfahrung mit psychologischer Hilfe ist. 

"Wir haben keine Fotos der Chatter:innen, wir können sie nicht hören oder sehen und das hilft, über Gefühle zu sprechen, weil es für die meisten Menschen im Chat ihre erste Erfahrung mit psychologischer Hilfe ist."

Viktoriia Prykhodko

Wieso ist es wichtig mit den Hilfesuchenden zu kommunizieren?  

Prykhodko: Hilfesuchende sind oft in einem verzweifelten Zustand und stehen unter Dauerstress. Sie erleiden Krisen und harte Zeiten, weil sie ihr übliches Leben auf verschiedene Weise verloren haben. Die meisten von ihnen bekommen keine Unterstützung von ihren Familien oder Nahestehenden, oder diese Unterstützung reicht nicht aus. Deshalb ist es wichtig, ihnen einen sicheren Ort zu bieten, wo sie akzeptiert und gehört werden, um PTBS, Störungen und Suizidversuchen vorzubeugen. Dieser Austausch hilft ihnen, Erleichterung zu verspüren, Wege zur Problembewältigung zu finden und gibt den Chatter:innen das Gefühl, dass sie nicht allein sind. 

Was sind die Risiken, wenn keine psychotherapeutische Hilfe stattfindet?  

Prykhodko: Wenn es keine psychotherapeutische Hilfe gäbe, gäbe es kurz- und langfristige Risiken. Ich denke, die kurzfristigen Risiken sind Suizidalität und ein geringes adaptives Funktionsniveau im Alltag. Und das Langzeitrisiko in so einer traumatisierenden Situation ist die Entstehung von ABR, PTBS oder komplexe Traumafolgestörung. Um diesen vorzubeugen, können wir mit den Menschen jetzt sprechen, ihnen Psychoedukation anbieten und helfen, Resilienzfaktoren zu entwickeln, die in traumatisierenden Situationen hilfreich sind. Psychotherapeutische Hilfe wird meistens zu posttraumatischem Wachstum führen und die Wahrscheinlichkeit der Entstehung psychischer Störungen reduzieren. 

Vielen Dank für das Interview die wertvolle Arbeit. 

 

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